Tochter des Schweigens
Ich habe keinerlei Anzeichen einer Manie, einer Schizophrenie oder paranoider Tendenzen feststellen können. Auch keine Amnesie und keine Spur von Hysterie. Eine gewisse Schockwirkung ist selbstverständlich vorhanden, doch sie schläft gut und ruhig, ißt normal, pflegt sich körperlich einwandfrei und scheint sich mit vernünftiger Resignation in ihre Lage zu finden. Selbstverständlich ist ein Trauma vorhanden. Und zwar im Zusammenhang mit dem Tod ihrer Mutter. Auch eine Art Besessenheit ist festzustellen, vermindert, doch nicht völlig überwunden durch die reinigende Wirkung des vollzogenen Racheaktes. Es wird gründlicher Untersuchung bedürfen, Grad und Ausdehnung zu ermitteln.«
»Genügt diese Besessenheit, um ein italienisches Gericht auf mildernde Umstände erkennen zu lassen?«
Galuzzi lachte und warf mit italienischer Überschwenglichkeit die Arme von sich:
»Ah! Das ist es ja! Hier fängt die Schwierigkeit an. Die Definition ist unklar. Und nur zu oft reagieren unsere Richter äußerst heftig auf Andeutungen, ein Mensch, der nicht geisteskrank ist, könnte für seine Handlungen dennoch nicht voll verantwortlich sein. Sie wissen ja wie ich, daß die Rechtsprechung in diesem Punkt nicht mit der Entwicklung unserer Wissenschaft Schritt hält. Es ist nicht selten Sache eines Anwalts, eine für seinen Mandanten günstige Entscheidung des Gerichts zu erwirken. Oft wird Gerechtigkeit durch mangelhafte Definition verhindert. Es liegt bei Leuten wie Ihnen und mir, unsere Erkenntnisse so klar und eindeutig festzulegen, daß der Richter gar nicht umhin kann, sie zu berücksichtigen. Und jetzt, bevor ich Ihnen das Band vorführe … Sie sagen, Sie haben das Mädchen noch nicht gesehen?«
»Nein, Rienzi hat sie gesehen und mir eine recht farbige Beschreibung vorn ihr gegeben.«
Galuzzi lachte auf.
»Ich mache ihm keinen Vorwurf daraus. Ich bin älter als er, doch ich gestehe, auch ich war seltsam beeindruckt. Sie ist von ganz ungewöhnlicher Schönheit – und verfügt über einen fast nonnenhaften Charme. Die Insassinnen in Gimignano sind auch wie Nonnen gekleidet – Säuferinnen, Diebinnen, Abtreiberinnen und billige Straßenmädchen. Aber sie! Man könnte einen Heiligenschein um ihren Kopf malen und sie auf ein Piedestal in die Kirche stellen. Na, wollen wir sie uns mal anhören.«
Er ging zum Tisch und schaltete das Gerät ein.
Galuzzis Stimme hatte den nüchternen Tonfall des geübten Psychiaters. Die Stimme des Mädchens war angenehm, doch irgendwie abwesend und gleichgültig, nicht stumpf und auch nicht gelangweilt, nur einfach seltsam unbeteiligt. Sie klang wie die Stimme einer Schauspielerin, die durch eine Maske spricht.
»Sie wissen, Anna, daß ich Arzt bin und gekommen, Ihnen zu helfen.«
»Ja, ich weiß.«
»Sagen Sie, haben Sie letzte Nacht gut geschlafen?«
»Sehr gut, danke.«
»Sie haben sich nicht gefürchtet?«
»Nein. Ich war sehr müde von den vielen Fragen. Aber niemand war unfreundlich zu mir. Ich habe mich nicht gefürchtet.«
»Wie alt sind Sie, Anna?«
»Vierundzwanzig.«
»Wie lange sind Sie verheiratet?«
»Vier Jahre.«
»In was für einem Haus wohnen Sie?«
»Ich wohne in keinem Haus, sondern in einer Wohnung. Sie ist nicht sehr groß. Aber groß genug für Luigi und mich.«
»Wie alt ist Luigi?«
»Sechsundzwanzig.«
»Was haben Sie getan, seit Sie verheiratet sind?«
»Was jede Frau tut. Saubergemacht, eingekauft, gekocht und für Luigi gesorgt.«
»In Florenz war das?«
»Ja.«
»Hatten Sie irgendwelche Freunde in Florenz?«
»Luigi hatte Freunde von der Arbeit her, und er hatte seine Familie. Ich selber habe dort niemanden gekannt.«
»Haben Sie sich nicht einsam gefühlt?«
»Nein.«
»War Luigi gut zu Ihnen?«
»Ja. Er war manchmal böse – aber er war gut zu mir.«
»Warum war er böse?«
»Er sagte immer, ich liebte ihn nicht, wie ich sollte.«
»Und haben Sie ihn geliebt?«
»Im Grunde, ja.«
»Was heißt das?«
»Innen. In meinem Kopf. In meinem Herzen.«
»Haben Sie Luigi das gesagt?«
»Ja. Aber er war trotzdem böse.«
»Warum?«
»Weil er gesagt hat, das genüge nicht. Eheleute täten etwas, um ihre Liebe zu zeigen.«
»Wußten Sie, was er meinte?«
»O ja.«
»Aber sie wollten es nicht tun?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich habe gedacht, er würde mir weh tun.«
»Und was haben Sie sonst noch gedacht?«
»Ich habe an seine Pistole gedacht.«
»Erzählen Sie mir etwas darüber.«
»Er hat sie jede Nacht
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