Tochter des Schweigens
offenkundig für alle, die diese Wege und Umwege erlebt haben, aber schwierig und schmerzvoll für diejenigen, die, wie Ninette und Landon, noch hindurch mußten.
An diesem Abend stritten sie sich nicht, sie waren still und zurückhaltend. Ninettes Eifersucht schien Landon kindisch, albern und beinah beleidigend für einen Mann, der bereit war, sie zum Altar zu führen, wenn sie nur mit dem Kopf nickte. Sie hatte ihn gedrängt, die Verbindung mit Rienzi nicht abzubrechen. Sie hatte ihm beigebracht, daß sie seine Freundschaft brauchten. Und wenn sie das alles jetzt bereute, dann hatte sie nicht den leisesten Grund, es ihm anzukreiden.
Was Ninette betraf, so verlangte sie nach Bestätigung, Nachsicht und Verständnis für ihre Grille. Sie brauchte wie jede Frau einen Partner in der offenkundigen Torheit der Liebesbeziehung. Sie verübelte ihm sein Gepolter ebenso wie seinen Mangel an Verständnis.
Es gab nur ein einziges Mittel dagegen: das Buch wegwerfen, die Worte vergessen – und sich in Zärtlichkeiten flüchten. Doch scheuten sie beide vor dieser einfachen Lösung zurück. An diesem Abend hatten sie Angst voreinander. Sie redeten aneinander vorbei und wußten doch, die Wahrheit lag nur einen Schritt entfernt – das große florentinische Bett mit seinen Drapierungen und den Erinnerungen an andere Lieben. Beide empfanden die gleiche Leidenschaft füreinander, und doch hatten beide das Gefühl, daß ihnen in dieser Situation Enthaltsamkeit besser täte als allzubereites Nachgeben. Vielleicht war es eine Torheit, denn das Leben ist eigentlich zu kurz, als daß man sich zu sehr unfruchtbarem Zorn überlassen dürfe. Doch in der Liebe ist vieles töricht – und sie trennten sich, nur halb versöhnt und auf ein besseres Morgen hoffend.
4
Am nächsten Morgen saß Professor Galuzzi um zehn Uhr dreißig mit seinem englischen Kollegen zu einer ersten Aussprache in seinem Büro. Er begann mit einer Entschuldigung:
»Ich denke, Landon, Sie sind mit mir einig, daß wir noch immer Pioniere einer unexakten Wissenschaft sind. Unsere Methoden sind tastend und unbeholfen, unsere Definitionen mitunter ungenau. Es hat bedeutende Gelehrte auf unserem Gebiet gegeben – Freud, Jung, Adler und die anderen –, doch wir wissen, daß selbst ihre bedeutendsten Untersuchungen oft durch ein zu dogmatisches Festhalten an unbewiesenen Hypothesen behindert wurden. Ich persönlich würde mich einen Eklektiker nennen. Ich behalte mir das Recht der Auswahl vor, der Auswahl des klarsten Weges zur Wahrheit. Nach allem, was ich von Ihnen gelesen habe, glaube ich, Sie haben die gleiche Einstellung.«
»Stimmt.« Landon nickte. »Ich glaube, das gilt für alle Wissenschaften: Die großen Sprünge nach vorn haben stets kühne Spekulierer gemacht, deren Irrtümer schließlich zur Entdeckung neuer Wahrheiten geführt haben. Noch ist unser Wissen um den menschlichen Geist ungenau, doch haben wir schon ein schönes Stück Wegs zurückgelegt – vom mittelalterlichen Tollhaus, von teuflischer Besessenheit und göttlichem Wahn.«
»Gut«, sagte Galuzzi erleichtert. »Damit hätten wir den Ausgangspunkt für eine Zusammenarbeit.« Er lehnte sich zurück. »Ich habe mich nur zu oft von Kollegen beeindrucken lassen, die behaupteten, das letzte Rätsel um den menschlichen Geist gelöst zu haben. Wir können uns eine solche Anmaßung nicht leisten. Wir sind weder Götter noch Wahrsager. Also – lassen Sie uns auf unsere Patientin zu sprechen kommen, diese Anna Albertini. Ich war gestern ein paar Stunden bei ihr. Ich habe eine Bandaufnahme von unserer Unterhaltung gemacht, die ich gern ablaufen lassen möchte. Vorher möchte ich Sie jedoch auf eine Eigenart der italienischen Strafjustiz aufmerksam machen. Wir haben, genau wie Sie, den Begriff der Unzurechnungsfähigkeit, dessen Definition ziemlich genau der in England gebräuchlichen entspricht. Außerdem haben wir den Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit. Er umfaßt eine ganze Skala, vom unkontrollierbaren Affekt bis zu den geistigen Zuständen und Schädigungen, die die Verantwortlichkeit des Individuums vor dem Gesetz vermindern, aber nicht aufheben. Und ich glaube, daß wir allenfalls damit operieren können.«
»Demnach schließen Sie Unzurechnungsfähigkeit völlig aus?«
»Ja.« Die Antwort kam mit großem Nachdruck. »Wenn Sie das Mädchen gesehen haben, werden Sie, glaube ich, derselben Ansicht sein. Ich glaube, daß sie im Sinne des Gesetzes durchaus nicht geisteskrank ist.
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