Tochter des Schweigens
beim Erzbischof von Florenz und dann bei den Zivilbehörden die Annullierung Ihrer Ehe mit der Begründung beantragt haben, sie sei nicht vollzogen?«
Einen Augenblick herrschte Totenstille, dann kam ein Entsetzensschrei von Anna Albertinis Lippen:
»Nein, Luigi, nein!« Sie rang verzweifelt mit ihren Wärtern und schrie: »Tu es nicht, Luigi! Verlaß mich nicht! Nicht! Nicht!«
Die Stimme des Präsidenten erhob sich über den Tumult:
»Führen Sie die Angeklagte hinaus.«
Im Saal sprang Professor Galuzzi auf.
»Wenn Sie gestatten, Herr Präsident – ich denke, die Angeklagte bedarf sofortiger ärztlicher Fürsorge.«
»Danke, Herr Professor. Das Gericht wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich der Angeklagten annehmen und dem Gericht mitteilen würden, wann sie wieder verhandlungsfähig ist.«
Während Anna völlig gebrochen abgeführt wurde, stand ihr Mann mit niedergeschlagenen Augen im Zeugenstand, und Carlo Rienzi wandte sich blaß, aber ruhig an das Gericht: »Ich habe keine weiteren Fragen an den Zeugen, Herr Präsident. Ich bedaure die Störung. Aber ich hatte keine andere Wahl.«
Zum erstenmal huschte so etwas wie ein düster-anerkennendes Lächeln über das Gesicht des Präsidenten.
»Sie sind vor diesem Gericht ein Neuling, Herr Rienzi. Ich hoffe, wir sehen Sie öfter hier.« Er hob seinen Hammer auf. »Das Gericht vertagt sich auf eine halbe Stunde oder bis zur Wiederherstellung der Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten.«
In dem Gedränge, das nun folgte, saßen Ninette und Landon schweigend neben Doktor Ascolini, bis die Menge sich verlaufen hatte. Carlo nahm seine Akten unter den Arm und ging zu den Zellen.
Ascolini war aufgeregt wie ein Schuljunge.
»Sehen Sie jetzt, Kind«, sagte er zu Ninette. »Die Methode, der Sinn für das Dramatische. Das ist große Anwaltskunst! Sie haben gesehen, wie er es gemacht hat: Carlo weiß so gut wie wir, daß jedermann irgendwo einen empfindlichen Punkt besitzt. Also inszeniert er ein großes Drama: Tränen, Geschrei, Sensation, um zu zeigen, wie dieser Punkt Schaden nehmen kann. Ein hübsches Mädchen, das im Bett nicht glücklich sein kann, das bringt Sympathie. Und alle fragen sich: ›Wie kann das einem hübschen Mädchen passieren, mit dem alle gern schlafen würden?‹ Und schon hat man vergessen, daß sie einen Mann umgebracht hat. – Ich bin stolz auf ihn.«
»Dann gehen Sie hin und sagen Sie es ihm, dottore«, sagte Ninette mit Nachdruck. »Ein paar Schritte, einige Sätze, und es ist geschehen. Gehen Sie jetzt gleich!«
»Es ist noch nicht Zeit dafür.«
»Es wird nie einen besseren Zeitpunkt geben, dottore. Überwinden Sie Ihren Stolz.«
Einen Augenblick zögerte er, dann stand er auf und ging zu der Tür, die zu den Zellen führte. Landon äußerte Zweifel, aber Ninette war begeistert von dem Erfolg ihres Manövers.
»Es ist wichtig, siehst du das nicht, Peter? Für Carlo, wenn er sich für die weitere Verhandlung auf Ascolinis Rat stützen kann. Und auch für Ascolini, der seine eigene Krise erlebt. Das Beste, was wir tun, tun wir unmittelbar und von Herzen.«
»Wir wissen, was in unseren eigenen Herzen vorgeht, Liebling. Ich bin nicht sicher, ob wir über andere Bescheid wissen.«
»Du siehst Geheimnisse, wo es keine gibt, Peter. Diese beiden sind zur Versöhnung bereit. Sie respektieren jetzt einander. Laß eine günstige Gelegenheit vorübergehen – und womöglich kommt nie wieder eine, oder jedenfalls lange Zeit nicht.«
Er war zu einer Antwort nicht aufgelegt, gab daher lächelnd und mit einem Schulterzucken auf und ging Hand in Hand mit ihr hinaus in den Vorraum. Der Lärm des allgemeinen Geredes war ohrenbetäubend. Worte, Sätze und Gesprächsfetzen wirbelten durcheinander. Frauen kicherten, Männer gaben verständnisvolle Kommentare ab; Geheimnisse wurden offen ausgeplaudert.
Alles das wies nur allzu deutlich auf das Bedürfnis der menschlichen Natur hin, Schicksalsschläge zum Gegenstand leichtfertigen Klatsches zu machen. Bedauern ist eine nur allzu bequeme Befriedigung, die sich rasch in Verachtung wandeln kann, aber Mitleid ist eine seltene Tugend, die auf dem Eingeständnis beruht, daß jeder potentiell zu genau der gleichen Schwäche fähig ist, die er an seinem Nächsten verdammt, und daß das Leid oder unerfüllte Sehnsucht diese Schwächen noch verstärken können. Die Grausamkeit einer Menge ist weniger erschreckend als die Furcht, die sich dahinter verbirgt.
»Peter, sieh doch!«
Ninettes Fingerspitzen gruben
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