Tochter des Schweigens
ziehen Sache des Gerichts ist. Ich protestiere!«
»Dem Einspruch ist stattgegeben. Der Herr Verteidiger möge sich auf Fragen mit Bezugnahme auf die vorliegende Anklageschrift beschränken.«
»Wenn Sie gestatten, Herr Präsident«, sagte Carlo Rienzi bestimmt. »Es kommt mir darauf an, dem Gericht meine Feststellung mit aller Klarheit zu definieren. Gestatten Sie mir, die Frage anders zu formulieren. Sagen Sie uns bitte, Professor, ist es richtig oder ist es nicht richtig, daß ein psychopathischer Patient geistig geschwächt ist?«
»Das ist richtig.«
»Keine weiteren Fragen, danke.«
Die Richter berieten sich flüsternd, und Ascolini wandte sich mit triumphierendem Lächeln Landon und Ninette zu.
»Sehen Sie? Ich habe Ihnen ja gesagt, er hat Asse im Ärmel! Das ist gut! Sehr gut!«
Nach dem erregten Gemurmel der Zuschauer zu urteilen, hatten die meisten die Bedeutung der letzten Sätze begriffen. Die Reporter schrieben fieberhaft, und der Staatsanwalt beriet sich mit seinen Assistenten. Nur Anna Albertini saß ruhig und ungerührt da, als ginge sie das aufgeregte Treiben um sie herum gar nichts an.
Der Präsident schlug mit seinem Hammer auf den Tisch, und die Zuschauer verstummten.
Der Staatsanwalt stand auf und wandte sich an das Gericht: »Herr Präsident, meine Herren Richter, die Ihnen vorliegende Anklage ist so klar und einfach, die Aussagen der Zeugen sind so bündig und übereinstimmend, daß ich zögere, die Zeit des Gerichts durch den Aufruf weiterer Zeugen unnötig in Anspruch zu nehmen. Wir haben das Verbrechen bewiesen und den Vorsatz. Beides wird zudem durch das freiwillige Geständnis der Angeklagten erhärtet. Es steht mir nicht zu, mich zu der neuen Taktik der Verteidigung zu äußern, doch möchte ich darauf hinweisen, daß dadurch keine unserer Beweisführungen erschüttert worden ist. Wir wären dem Herrn Präsidenten für eine Anweisung außerordentlich dankbar.«
Aus einem Landon nicht verständlichen Grunde schien dieses Ansinnen den Präsidenten zu reizen. Er sagte mit Schärfe: »Ich sehe beim besten Willen keinen Anlaß für irgendeine neue Anweisung. Wenn die Anklage keine weiteren Zeugen hat, dann soll die Verteidigung die ihren aufrufen. Herr Rienzi?«
»Mit Erlaubnis des Gerichts möchte ich zuerst Luigi Albertini noch einmal in den Zeugenstand bitten.«
Bei der Erwähnung dieses Namens schien die Angeklagte aufzuwachen. Ihre Hände umklammerten die Messingstange vor der Anklagebank, und sie starrte mit weitaufgerissenen Augen auf den schwächlichen, verwirrten jungen Mann, der den Zeugenstand betrat. Rienzi ließ ihn eine Weile dastehen, bevor er sehr kühl und distanziert das Kreuzverhör begann:
»Herr Albertini, wie lange sind Sie verheiratet?«
Der junge Mann sah unsicher und gereizt auf.
»Das habe ich vorhin schon gesagt: vier Jahre.«
»War Ihre Ehe immer glücklich?«
Luigi warf einen verschämten Blick auf seine Frau und murmelte nach einer Weile finster:
»Sie war überhaupt nie glücklich.«
»Warum nicht?«
»Ich – ich möchte das nicht sagen.«
»Sie müssen es sagen«, sagte Rienzi. »Ihre Frau steht hier wegen Mordes vor Gericht.«
Albertini wurde rot und stammelte unglücklich:
»Ich – ich weiß nicht, wie ich's ausdrücken soll.«
»Sagen Sie es so, wie Sie es wissen, einfach und geradeheraus. Warum war Ihre Ehe nicht glücklich?«
»Wir haben – wir haben nie zusammen geschlafen, wie Eheleute das tun sollten.«
»Warum nicht?«
»Weil … immer wenn ich Anna in die Arme genommen habe, hat sie geschrien: ›Sie bringen sie um, sie bringen meine Mutter um!‹«
»Wissen Sie, warum Anna das tat?«
»Freilich weiß ich's. Anna weiß es auch.« Er schien plötzlich wütend, beruhigte sich jedoch gleich wieder. »Aber das hat uns auch nicht geholfen. Vier Jahre ist das so gegangen.«
»Während dieser vier Jahre – schwerer Jahre, gebe ich zu –, haben Sie da jemals ärztlichen Rat eingeholt?«
»Oft. Und bei vielen Ärzten. Sie haben alle immer dasselbe gesagt.«
»Was haben sie gesagt?«
»Ich solle Geduld haben und ihr Zeit lassen, dann würde es vielleicht besser werden.« Er platzte voll Bitterkeit heraus: »Aber es ist nicht besser geworden. Soll das vielleicht ein Leben sein?«
»Und jetzt, Herr Albertini?«
Luigi sah verwirrt aus.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
Kalt versetzte Rienzi ihm den Gnadenstoß:
»Ich denke doch! Trifft es denn nicht zu, daß Sie zehn Tage nach der Verhaftung Ihrer Frau zunächst
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