Tochter des Schweigens
kramte umständlich in seinen Papieren und verlas dann die lange Aussage mit monotoner Stimme, währenddessen die Menge immer ungeduldiger und unruhiger wurde. Landon warf einen vorsichtigen Blick auf Rienzi, der jedoch völlig verschlossen vor sich hin blickte und auf den Text konzentriert schien. Als der Schriftführer endete, dankte ihm Rienzi und wandte sich an Landon:
»Stimmt Ihre Beurteilung des Falles mit der von Professor Galuzzi überein?«
»Ja.«
»Sie sind also grundsätzlich gleichfalls der Meinung, daß sich psychische Traumata oft sehr lange nach ihrer Auslösung in verschiedenen Formen geistiger Schwächen manifestieren können?«
»Grundsätzlich – ja.«
»Sie haben die Aussage des letzten Zeugen gehört. Sie haben gehört, wie diese Angeklagte im Alter von acht fahren Zeugin der brutalen Umstände der Vergewaltigung und des Mordes an ihrer Mutter wurde. Sind diese Ereignisse nach Ihrer Ansicht imstande, der kindlichen Psyche eine sehr schwere Wunde zuzufügen?«
»Durchaus.«
»Herr Landon, wie würden Sie das Wort Zwangsvorstellung definieren?«
»Es bezeichnet eine hartnäckige oder immer wiederkehrende Idee, die im allgemeinen stark vom Gefühl bestimmt und häufig mit einem Drang verbunden ist, etwas Bestimmtes zu tun. Die geistige Konstitution ist dabei ausgesprochen pathologisch.«
»Pathologisch heißt in diesem Falle krank oder geistesschwach?«
»Das ist richtig.«
»Könnten Sie diese Definition dem Gericht noch ein wenig klarer machen?«
»Nun, manche Patienten sind in diesem Fall von einem Schuldkomplex besessen und bezichtigen sich eines Verbrechens, das sie nicht begangen haben. Andere sind von grundlosen Ängsten beherrscht und wagen sich nicht über die Straße, aus Furcht, umzukommen. Es gibt Menschen, die jeden Abend zwanzigmal um ihr Haus gehen, um sich zu vergewissern, daß auch alle Türen und Fenster verschlossen sind. Das ist gleichfalls eine Art Zwangsvorstellung.«
»Ist dieser Zustand heilbar?«
»Mitunter kann er durch eine Analyse, die dem Patienten die Wurzel seines Leidens zeigt, ganz oder teilweise beseitigt werden. Manchmal frißt sich die Idee jedoch so fest, daß eine Heilung unmöglich erscheint – ausgenommen vielleicht durch den Lobotomie genannten chirurgischen Gehirnschnitt.«
»Würden Sie auf Grund Ihrer Untersuchungen und der Zeugenaussagen vor diesem Gericht meinen, daß die Angeklagte das Opfer einer solchen Zwangsvorstellung gewesen ist?«
»Unzweifelhaft.«
»Einer Zwangsvorstellung, die mit dem psychischen Schock begann, der ihr beim Tode ihrer Mutter zugefügt wurde?«
»Ja. Ihre Unfähigkeit, die Ehe zu vollziehen, steht beispielsweise in einem direkten Zusammenhang mit der Gewalt, die ihrer Mutter angetan wurde.«
»Herr Landon, ich möchte Sie bitten, sich der entscheidenden Wichtigkeit meiner nächsten Frage bewußt zu sein. Und das möchte ich auch das Gericht bitten, damit nicht der Eindruck entsteht, der Zeuge solle vom Tatbestand abgelenkt und zur Spekulation verführt werden. Das ist, wie ich dem Herrn Präsidenten nachdrücklich versichern will, durchaus nicht meine Absicht. Doktor Galuzzis Aussage warf die entscheidende Frage von Moralempfinden und moralischer Verantwortlichkeit auf. Ich möchte auf diesen Punkt näher eingehen.« Er wandte sich an Landon und fragte akzentuiert: »Beraubt diese Zwangsvorstellung, über die wir gesprochen haben – die fixe Idee –, den Patienten der moralischen Verantwortung? Vermindert sie diese Verantwortung so sehr, daß der Patient nicht anders kann, als auszuführen, wozu die fixe Idee ihn zwingt?«
Die Frage war mit Sprengstoff geladen. Und Landon wußte es. Er überlegte kurz, bevor er seine Antwort formulierte: »Die moderne Psychologie kennt viele Zustände, deren Opfer der Verantwortlichkeit für ihre Handlungen anscheinend oder tatsächlich beraubt sind oder deren moralische Empfindungen – und folglich auch moralische Verantwortlichkeit – immerhin vermindert sind. Es muß jedoch gesagt werden, daß diese Zustände bislang gesetzlich nicht präzis definiert worden sind und daß daher der Patient, der unter dem Einfluß eines solchen Zustandes ein Verbrechen begeht, nach den Gesetzen, wie sie heute bestehen, straffällig werden kann.«
»Würden Sie sagen, daß der Geisteszustand der Angeklagten ihre moralische Verantwortung herabgesetzt hat?«
»Unbedingt.«
»Hat er in irgendeiner Weise den Reifeprozeß verzögern können?«
»Das ist sehr wahrscheinlich,
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