Tochter des Schweigens
wiedergeben, der sich von ihr abgewandt hat, und nicht die Möglichkeit, eine einfache und glückliche Ehe zu führen. Alles, was Sie tun können, ist, neue Bürden auf ihre Schultern zu legen: die Bürde von Schuld, Strafe und Wiedergutmachung.
Sie sind in diesem Fall in einem Dilemma, meine Herren. Wir sind alle in einem Dilemma. Wir sind zu etwas verpflichtet, was wir nicht vollbringen können. Wir glauben etwas, das wir nicht verwirklichen können, weil das Vokabularium des Gesetzes der Worte ermangelt, es zu definieren. Wir sind – bedenken Sie das bitte – angehalten, etwas zu tun, was wir bei der Angeklagten verdammen: Vergeltung zu üben. Auge um Auge – Zahn um Zahn.
Sie werden, einfach, weil Sie müssen, Anna Albertini des Totschlags für schuldig befinden. Und doch wissen Sie, genau wie ich, daß Sie – diese Handlung, wäre sie zu einer andern Zeit begangen – wenn auch unter den gleichen Voraussetzungen –, als vertretbar und gerecht gepriesen hätten. Sie wissen, daß die Handlung nie begangen worden wäre, hätte nicht vor vielen Jahren ein Hüter des Gesetzes Anna Albertini das Recht auf legale Vergeltung vorenthalten. Doch wenn Sie sich zurückziehen, um Ihre Entscheidung zu treffen, werden Sie nicht in der Lage sein, diese Tatsache ausreichend zu berücksichtigen. Sie werden den Antrag der Verteidigung auf mildernde Umstände wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit in Betracht ziehen und sich – wie ich glaube – für ihn entscheiden. Sie werden sich nicht der Absicht des Staatsanwalts anschließen, die Tat sei vorsätzlich und mit Vorbedacht begangen worden, da ja der Nachweis eines Traumas und einer Zwangsvorstellung diese Möglichkeit von vornherein ausschließt.
Aber das Tragische, meine Herren, das tief Tragische Ihrer Lage ist, daß Sie außerstande sind, Gerechtigkeit Gerechtigkeit werden zu lassen. Nicht aus Mangel an Kenntnis, an Erkenntnis oder an gutem Willen, sondern weil das Gesetz das Wesen moralischer Verantwortung nicht ausreichend zu definieren und zu berücksichtigen vermag, weil seine Entwicklung nicht Schritt gehalten hat mit den Entdeckungen der modernen Psychiatrie und den verwickelten Erkrankungen des menschlichen Geistes.
Was können Sie tun – wenn Sie der Wahrheit und Gerechtigkeit dienen wollen und doch wissen, daß beide nicht zu realisieren sind? Ich ersuche Sie daher, diesen Fall so milde zu beurteilen, wie es das Gesetz nur irgend erlaubt. Sie müssen eine Mindeststrafe verhängen, nicht nur von kurzer Dauer, sondern auch in der Form der Vollstreckung so milde wie möglich. Wenn Sie dieses Mädchen, das ja immer noch nur ein Kind ist, in ein Gefängnis schicken müssen, dann lassen Sie es keine gewöhnliche Strafanstalt sein, sondern eine Anstalt, in der sie liebevoller Fürsorge und der Hoffnung auf Heilung ihrer seelischen Wunden gewiß sein kann.«
Zum erstenmal brach er ab. Er stand da, mit gesenktem Kopf, und seine Schultern bebten, während er sich bemühte, seine Fassung wiederzugewinnen. Dann richtete er sich auf und hob beschwörend die Hände zu einer letzten leidenschaftlichen Bitte:
»Was kann ich sonst noch sagen? Wie sonst kann ich Ihnen noch eine Möglichkeit weisen, die kalte Vernunftlosigkeit des Gesetzes in Einklang zu bringen mit der Wahrheit und Gerechtigkeit, die der menschliche Instinkt uns erkennen läßt? Wie Sie, meine Herren, bin auch ich ein Diener des Gesetzes – wie Sie schäme ich mich in diesem Augenblick dieser meiner Stellung. Gott helfe uns allen!«
Er wandte sich ab, ging zu seinem Tisch und setzte sich, das Gesicht in seinen Händen bergend.
Es war ein großer Augenblick. Ein Augenblick, der Einsicht vermittelte, wie er manchmal großen Predigern gelingt. Die Antinomien menschlicher Verhaltensweisen waren plötzlich bloßgelegt; das Gefühl des Unausweichlichen, der Jammer und der furchteinflößende Schrecken, der ihre Manifestationen begleitet. Eine Frau im Publikum schluchzte hemmungslos. Ninette fuhr mit dem Taschentuch über ihre Augen, und selbst Ascolini sah bewegt drein. Der weißhaarige Präsident putzte seine Brillengläser, und die anderen Richter konnten ihre offene Sympathie für den jungen Anwalt nicht verbergen. Nur Anna Albertini saß bleich und abwesend da, offenbar ohne jedes Verständnis für diesen Augenblick.
Der Präsident beugte sich in seinem Stuhl vor:
»Herr Rienzi –«
Rienzi sah auf, und man bemerkte, daß sein Gesicht tränennaß war.
»Ich – ich bitte um
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