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Tochter des Schweigens

Titel: Tochter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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Inschrift in der Friedhofsmauer. – Vor diesem Gericht ist viel über den zweifelhaften Charakter des Toten gesagt worden. Wir bestreiten nichts davon. Aber wir stützen uns auf den primitivsten Grundsatz des Gesetzes: daß Mord – gleich, aus welchem Motiv heraus – eine unmoralische und gesetzwidrige Handlung ist. Sie mögen, wenn Sie es für richtig halten, für die unglückliche Angeklagte mildernde Umstände fordern. Aber Sie müssen ihr Verbrechen als das erkennen, was es ist: vorsätzlicher Mord! Ich, meine Herren, bin wie Sie ein Diener des Gesetzes. Ich brauche dem nichts mehr hinzuzufügen als: Sie können nicht weniger sein.«
    Diese Worte klangen so schlicht und einfach, daß man kaum die Begabung erkannte, die dahintersteckte: Die Sympathie mochte gegen ihn stehen, aber alles andere sprach zu seinen Gunsten. Er hatte einen glasklaren Fall, und mildernde Umstände konnten ihm nicht das geringste anhaben. Er setzte sich mit selbstzufriedener Miene, während der Präsident Carlo Rienzi aufforderte, mit seinem Plädoyer zu beginnen.
    Carlo erhob sich langsam, raffte seine schwarze Robe zusammen und konzentrierte sich kurz für den letzten Gang. Er warf einen schnellen Blick auf Anna Albertina und wandte sich dann mit ruhiger, eindringlicher Stimme an die Richter:
    »Herr Präsident – hohes Gericht. Mein gelehrter Freund hat soeben vom Gesetz gesprochen. Wenn man ihn hört, könnte man glauben, das Gesetz sei etwas Festgefügtes, Unwandelbares, über allem Streit und aller Auslegung Stehendes. Doch dem ist nicht so. Das Gesetz besteht aus Traditionen, Übereinkünften, Präzedenzfällen. Manches davon ist gut, manches schlecht. In seiner Gesamtheit jedoch ist es gerichtet auf die Sicherheit des Menschen, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und die Gewährleistung der moralischen Gerechtigkeit.
    Manchmal stehen diese Ziele im Einklang miteinander, manchmal widersprechen sie sich, so daß der Gerechtigkeit ein schlechter Dienst erwiesen werden kann, während gleichzeitig den Forderungen der öffentlichen Ordnung Genüge getan scheint. Manchmal ist die Vorschrift des Gesetzes zu einfach, manchmal zu detailliert, so daß stets Kommentar und Auslegung notwendig sind und oft erst aus einer Menge einander widersprechender Meinungen auf die wahre Absicht des Gesetzgebers geschlossen werden kann.
    In den Zehn Geboten steht: Du sollst nicht töten. Aber ist das das Ende? Sie wissen, es ist es nicht. Man zieht einem Mann eine Uniform an, gibt ihm ein Gewehr in die Hand und sagt: ›Es ist eine heilige, eine segensreiche Sache, zu töten, wenn es um das Vaterland geht.‹ Und man heftet einen Orden auf seine Brust, wenn er es tut …
    Lassen Sie uns doch ganz klar erkennen, meine Herren! Das Gesetz ist ein Mittel zum Zweck und kein Selbstzweck. Es ist kein vollkommenes Instrument der Gerechtigkeit – und kann es nie sein.
    Doch nicht nur das Gesetz ist unvollkommen. Unvollkommen sind auch seine Diener – die Polizei und die Richter. Wenn sie versäumen, ihre Pflicht zu tun, wenn ihre Macht pervertiert ist – so wie in San Stefano während des Krieges –, so daß schlechte Menschen die Oberhand gewinnen und die Unschuldigen ihnen schutzlos ausgeliefert sind – was dann? Hätte Anna Albertini Belloni in dem Augenblick, in dem er ihre Mutter vergewaltigte, erschossen, würden Sie sie dann des Mordes angeklagt haben? Nein! Sie hätten sie als ein tapferes Kind gerühmt, das die Ehre seiner Mutter verteidigte. Vielleicht hätten Sie sogar auf seine Brust den Orden geheftet, den eine dankbare Regierung später Gianbattista Belloni verlieh.
    Ich sage das nicht, Herr Präsident, um für die Verteidigung eine Voraussetzung in Anspruch zu nehmen, die außerhalb des Gesetzes liegt. Ich sage es in Übereinstimmung mit dem Prinzip, dem sich in diesem Land und anderswo bedeutende Juristen verschrieben haben: daß es die Pflicht eines Gerichtes ist, nicht nur das Gesetz zu achten, sondern auch dafür zu sorgen, daß es in seiner Unvollkommenheit nicht der Gerechtigkeit im Wege stehe.
    Ich weiß – und Sie wissen selber –, daß Sie niemals meiner Mandantin Gerechtigkeit widerfahren lassen können. Sie können ihre tote Mutter nicht ins Leben zurückrufen. Sie können ihr nicht die schreckliche Erinnerung an das Grauen der Vergewaltigung und des Mordes nehmen. Sie können ihr die Jahre nicht wiedergeben, die sie als Gefangene ihrer Zwangsvorstellung verbracht hat. Sie können ihr auch den Gatten nicht

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