Tochter des Schweigens
denke ich. Die menschliche Psyche entwickelt sich – ebenso wie der Körper – durch organisches Wachstum, durch Umwelteinflüsse und Erziehung. Ihre Entwicklung kann durch körperliche Schwäche, durch ein Trauma oder falsche Erziehung selbstverständlich behindert werden.«
»Und, genau wie beim Körper, kann wohl im Bereich des Seelischen die eine Funktion behindert werden, während alle anderen sich normal entwickeln?«
»Richtig. Und ein ausgezeichneter Mathematiker kann beispielsweise die Vorstellungswelt eines Kindes haben.«
»Kann man sagen, Herr Landon, daß als Folge eines psychischen Schocks nicht nur die normale Entwicklung gestört wird, sondern der Betroffene, ich möchte sagen, in dem Augenblick in seiner Entwicklung fixiert wird, in dem er den Schock erleidet?«
»Das ist bei Zwangsvorstellungen eine durchaus nicht ungewöhnliche Erscheinungsform.«
»Eine unter solchem Einfluß begangene Handlung würde folglich moralisch so zu bewerten sein, als sei sie zur Zeit des ersten Schocks begangen worden?«
Landon hob die Augenbrauen.
»Es wäre möglich. Sie dürfen allerdings nicht verlangen, daß ich mehr sage – man könnte den Nachweis allenfalls durch langwierige und komplizierte klinische Analysen führen.«
»Aber Sie räumen jedenfalls die Möglichkeit ein?«
»Das muß jeder Psychiater.«
»Angesichts dessen, was Anna Albertini zugestoßen ist, angesichts ihrer Unfähigkeit, die Ehe zu vollziehen, und unter Berücksichtigung Ihrer eigenen Untersuchungen: Würden Sie in ihrem Fall diese Möglichkeit zugestehen?«
»Ich könnte sie nicht verneinen.«
»Lassen Sie uns in diesem Punkt ganz präzis sein, Herr Landon. Sie räumen ohne Zweifel einen schweren psychischen Schock und eine schwere psychische Schädigung ein?«
»Das tue ich.«
»Ferner eine Form der Zwangsvorstellung mit vermindert moralischer Verantwortlichkeit?«
»Ja.«
»Sie räumen auch wenigstens die Möglichkeit ein, daß der Mord an Gianbattista Belloni in der Vorstellung der Angeklagten so existiert, als wäre er unmittelbar nach dem Tode ihrer Mutter begangen worden?«
»In diesem Punkt kann ich nicht weiter gehen, als ich mit meiner Antwort von vorhin bereits gegangen bin.«
»Danke, Herr Landon.« Rienzi wandte sich ab. »Die Verteidigung ist mit ihrer Beweisführung zu Ende, Herr Präsident.«
Obwohl sie Reihenfolge und Form der Fragen miteinander festgelegt hatten, fand Landon, daß Rienzi die Befragung viel zu beiläufig durchgeführt hatte. Auch für die Zuschauer war es ein eher lahmer Abschluß. Das Ereignis, das sie sich von Rienzi versprochen hatten, war ausgeblieben. Landon verbarg seinen Eindruck nicht vor Ascolini, aber der alte Herr schüttelte seine weiße Mähne und brummte gereizt.
»Nicht Sie sind hier der Richter, sondern die Burschen da oben. Der Junge hat seine Sache gut gemacht. Er hat ihnen ihr Drama geliefert, und dazu einen Hauch kühler Vernunft. Außerdem – es geht ja weiter. Hören Sie!«
Der große hakennasige Staatsanwalt hatte sich erhoben und wandte sich in ernstem, gemessenem Ton an die Richter:
»Herr Präsident – hohes Gericht. Niemand ist tiefer bewegt von den Tatsachen, die die Verteidigung hier dargelegt hat, als ich. Niemand hat größeres Mitgefühl mit der Angeklagten, die all diese Jahre eine so schwere Bürde auf ihren Schultern hat tragen müssen. Jedoch«, er machte eine Pause und fuhr mit Nachdruck fort, »jedoch ich muß mich – genau wie Sie, die Mitglieder des Gerichts – auf das Gesetz stützen: Das Gesetz ist eine Barriere zwischen Ordnung und Chaos. Und in einem bestimmten Sinn ist das Gesetz wichtiger als die Gerechtigkeit. Setzen Sie das Gesetz außer Kraft – wie es in diesem Land durch so viele Jahre hindurch geschehen ist –, und Sie öffnen der Gewalt Tür und Tor. Versuchen Sie, das Gesetz zu beugen, versuchen Sie es, Ihren eigenen Sympathien, Ihrem eigenen Mitgefühl entsprechend, zu manipulieren, und Sie präjudizieren neue, größere Verbrechen. Sie geben dann zu, daß gewaltsame Rache gesetzlich, daß politischer Mord erlaubt ist. Sie rufen damit die Vendetta wieder ins Leben: die Tradition, daß Mord Mord nach sich zieht – von Generation zu Generation. Sie können das nicht verantworten. Nach den Ihnen vorgelegten Beweisen müssen Sie diese Frau verurteilen, denn es besteht nicht der Schatten eines Zweifels, daß hier ein Verbrechen begangen wurde. Und auch der Vorsatz ist bewiesen. Sechzehn Jahre Vorsatz! Beweis: die
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