Tochter des Schweigens
Kuß ein Kind zu kriegen.« Sein Ausdruck verfinsterte sich. »Ganz im Ernst, Peter. Genauso geht es mir jetzt mit Valeria. Sie ist mir ganz einfach gleichgültig. Was kann ich da machen?«
»Schwindle ein bißchen. Laß der Sache Zeit. Wenn du lange genug auf die Glut bläst, kommt das Feuer schon wieder.«
»Aber wenn keine Glut mehr da ist, Peter – nur Schlacke und Asche?«
»Dann bist du übel dran, Junge. Bei euch gibt es keine Scheidung – und du hast kein Talent für ein Doppelleben. Darum versuche es, um Gottes willen! Du bist doch kein Kind. Du weißt, was du zu sagen hast. Und Frauen glauben nur zu gern, was sie hören möchten.«
»Du hast recht, selbstverständlich.« Rienzi schwang sich aus dem Bett und drückte seine Zigarette aus. »Nur daß ich eben ein schlechter Lügner bin und Valeria schon auswendig weiß, was ich ihr sagen könnte. Immerhin – wir wollen es probieren. Und jetzt laß sehen, ob ich ein Hemd für dich finde.«
Auf dem Wege zu seinem Zimmer wunderte sich Landon, warum Rienzi kein Wort von Anna Albertini gesagt hatte, und er fragte sich, ob die Studentengeschichte sich in seiner Phantasie nicht wiederholte: der schamhafte Mann und die kleine weiße Jungfrau, die auf der Treppe saßen und Händchen hielten, während draußen die große Welt kraftvoll pulsierte.
Der Auftakt von Ascolinis Dinner-Party war ein gesellschaftlicher Erfolg. Mehr als zwanzig Menschen saßen um die große Tafel im Speisezimmer: Lokalhonoratioren mit ihren Frauen, ein Mitglied des Parlaments, einige bedeutende Juristen, der Senior der Presse von Siena, Professor Galuzzi und eine erstaunliche Marchesa, zerbrechlich wie eine Porzellanpuppe, die Ascolini mit der Offenheit einer alten Geliebten ausschalt.
Nach dem Essen begaben die Gäste sich, mit Drinks versehen, auf die Terrasse und sahen über der fernen Bergkette von Aimara den Mond in den Himmel steigen. Valerias Nachtigallen sangen noch nicht, doch Galuzzi, mit dem Landon sich schon bei Tisch unterhalten hatte, war ein blendender Erzähler, und Landon vermißte sie nicht. Unfehlbar kam Galuzzi auf die Albertini-Affäre zu sprechen und sagte nach einem vorsichtigen Blick über die Schulter leise:
»Eines Tages wird der junge Rienzi ein großer Jurist sein, Landon. Aber irgendwo ist da ein Defekt, und ich kann mit dem besten Willen nicht genau sagen, was es ist. Eine Verwirrung, ein noch ungelöster Konflikt?«
»Der Konflikt ist deutlich genug, denke ich. Er führt eine nicht gerade glückliche Ehe.«
»Das habe ich gehört. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern. Aber das meine ich nicht. Ich habe ihn genau beobachtet mit dieser Mandantin, die er da hat. Ein seltsames Verhältnis, um es milde auszudrücken.«
»Wie seltsam?«
»Bei dem Mädchen«, sagte Galuzzi vorsichtig, »ist es, ich möchte sagen, normal-anomal. Ein verwirrter Geist sucht einen Ruhepunkt, eine Erlösung von der Angst. Er verlangt nach einer Ableitung der Schuld, einem Beschützer für seine Schwächen und einem Objekt für seine leidende Liebe. Genau das ist Rienzi für das Mädchen geworden. Sie wissen so gut wie ich, wie sich so etwas entwickelt.«
Landon sagte bekümmert:
»Carlo ist sich darüber einigermaßen im klaren, denke ich.«
»Das weiß ich«, sagte Galuzzi bissig. »Ich habe es ihm gesagt.«
»Wie hat er es aufgenommen?«
»Sehr gut. Und ich muß sagen, daß sein Verhalten beruflich einwandfrei gewesen ist. Aber genau an diesem Punkt beginnen die Schwierigkeiten: Eine gewisse Arroganz führt zum Besitzenwollen; die feste Überzeugung, daß er einen segensreichen Einfluß auf dieses Mädchen ausübt, führt zu der unbedachten Bereitschaft, eine Verantwortung auch über seine Aufgabe hinaus zu übernehmen.«
Landon war geneigt, Galuzzis Worten voll beizupflichten. Aber ein unbehagliches Schuldgefühl bewog ihn, wenigstens einen letzten Versuch zu Rienzis Verteidigung zu unternehmen.
»Ist das nicht eine ziemlich normale Reaktion – der erste große Fall – die erste Mandantin?«
»Auf den ersten Blick, ja. Aber da ist noch etwas, was ich nur schwer definieren kann.« Galuzzi nippte nachdenklich an seinem Brandy und zündete sich eine Zigarette an. Dann sagte er langsam:
»Wissen Sie, was nach meiner Meinung dahintersteckt, Landon? Die alte Vorstellung von der Unschuld und vom verlorenen Paradies. Ich sehe, Sie lächeln. Ja, wir sind Zyniker, wir beide. In unserem Beruf müssen wir das sein.« Seine Miene verdüsterte sich, als er fortfuhr:
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