Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tochter des Schweigens

Titel: Tochter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
Vom Netzwerk:
führten, wie Absicht und Provokation, und es betrachtet in diesem Licht die Verantwortlichkeit des Täters. All diesen Faktoren haben meine Kollegen und ich die denkbar größte Aufmerksamkeit gewidmet. Die Absicht war in diesem Fall ganz klar: Mord aus Rache. Die Provokation war groß – größer, als irgendeiner von uns es vielleicht ertragen kann. Jedoch zu behaupten, daß Provokation eine Tat entschuldigt, heißt jeder Art von Gewalt Tür und Tor öffnen. Es würde bedeuten, die alte und furchtbare Tradition der Vendetta Wiederaufleben zu lassen.
    Die Frage der Verantwortlichkeit ist bedeutend komplexer, und wir haben lange darüber debattiert. Die Verteidigung hat niemals behauptet, Anna Albertini habe die Tat in einem Zustand geistiger Umnachtung begangen. Sie hat auch nicht angedeutet, die Angeklagte sei unfähig, sich vor diesem Gericht zu verantworten. Der Herr Verteidiger hat ausdrücklich betont, daß der traumatische Schock beim Tode ihrer Mutter die Angeklagte in einem Geisteszustand zurückgelassen hat, in dem der Ablauf der Zeit und die Veränderung äußerer Umstände sie nicht beeinflußten. Seine Ansicht teilt, wenigstens teilweise, das medizinische Gutachten.
    Von diesem Punkt aus entwickelte er mit beträchtlichem Geschick einen doppelten Antrag. Seine erste Behauptung war, Anna Albertinis Tat sei so zu beurteilen, als sei sie unmittelbar nach dem Tod ihrer Mutter begangen worden. Hierauf kann vielleicht ein Psychiater eine brauchbare Hypothese gründen, es ist jedoch meine und meiner Kollegen Überzeugung, daß diese Hypothese vor dem Gesetz keine Gültigkeit hat.
    Der zweiten Behauptung des Herrn Verteidigers, der zufolge sich die Angeklagte in einem Zustand verminderter Zurechnungsfähigkeit befunden hat, haben wir uns dagegen in vollem Umfang angeschlossen. Wir haben auch die furchtbaren Umstände berücksichtigt, die der Tat vorausgingen, wenn auch vor vielen Jahren. Auch haben wir die langen Jahre seelischer Qual berücksichtigt, die diese junge Frau durchgestanden hat, sowie den Zusammenbruch ihrer Ehe und die ungewisse Zukunft, der sie nun entgegensieht.«
    Er wandte das letzte Blatt seiner Notizen um, verharrte einen Augenblick und verkündete dann mit ruhiger Stimme seine Entscheidung: »Die Anklage hat eine Verurteilung wegen vorsätzlichen Mordes beantragt. Das Gericht hielt ein Urteil auf dieser Grundlage für zu hart. Wir haben uns daher anders entschieden.« Er wandte sich an die Angeklagte und sagte:
    »Anna Albertini, das Gericht hält Sie des Totschlags für schuldig, begangen in einem Zustand verminderter Zurechnungsfähigkeit. Dafür sieht das Gesetz eine Gefängnisstrafe von drei bis sieben Jahren vor. Unter Berücksichtigung der zahlreichen mildernden Umstände haben wir beschlossen, Sie zu der Mindeststrafe von drei Jahren zu verurteilen, die Sie in den Anstalten verbringen werden, die unsere medizinischen Berater jeweils bestimmen werden.«
    Die Worte waren noch nicht verklungen, als Carlo Rienzi sich schwer auf seinen Tisch fallen ließ und sein Gesicht in seinen Händen barg. Anna Albertini saß blaß, kühl und unbeteiligt auf der Anklagebank, während das Publikum einen Sturm der Begeisterung entfesselte, den auch das größte Polizeiaufgebot nicht hätte unterdrücken können.

8
    »Morgen«, sagte Ninette bestimmt, »morgen packen wir und fahren. Wir heiraten in Rom und suchen uns eine Villa in der Nähe von Frascati, ein Haus mit einem Garten und einer schönen Aussicht, wo du arbeiten kannst und ich malen. Wir brauchen es, chéri. Wir haben uns hier schon zu sehr verausgabt, es ist höchste Zeit, daß wir wegkommen.«
    Sie gingen im Garten von Ascolinis Villa spazieren. Zikaden zirpten, ein Vogel tschilpte träge im Gebüsch. Carlo hatte sich schlafen gelegt, Ascolini schlummerte in seiner Bibliothek, und Valeria spielte die emsige Hausfrau, arrangierte Blumen, kommandierte das Personal in der Küche herum und traf alle möglichen Vorbereitungen für den Abend.
    Ascolini hatte trotz Landons und Ninettes Protest darauf bestanden, daß die beiden vom Gericht direkt mit zur Villa kämen. Auch Valeria hatte sie bedrängt; es war, als hätten die drei Angst, miteinander allein zu sein. Als brauchten sie Beistand, der ihnen das Sichwiederfinden erleichterte.
    Landon und Ninette waren eigentlich müde und der Sache überdrüssig, aber sie trösteten sich mit dem Gedanken, daß sie sich schon morgen ganz ihren eigenen Vorhaben würden widmen können.
    So wanderten sie

Weitere Kostenlose Bücher