Tochter des Schweigens
eigentlich euer Kummer?«
Valeria starrte ihn mit leeren Augen an.
»Ist das nicht offenkundig genug, Vater? Ich habe mich wie eine Verrückte benommen, und Carlo braucht etwas, was ich ihm nicht geben kann.«
»Zugegeben: benommen hast du dich nicht gerade gut«, sagte Ascolini trocken. »Wir wollen uns gelegentlich daran erinnern, damit es nicht wieder soweit kommt. Aber was will Carlo denn?« Sie zuckte unglücklich die Schultern.
»Ich wünschte, ich wüßte es. Eine Mutter, vielleicht, oder eine Kinderbraut frisch von der Klosterschule.«
»Die Kinderbraut hat er ja«, sagte Ascolini spöttisch. »Aber sie nützt ihm nichts, weil sie drei Jahre eingesperrt ist. Was die Mutter angeht, kann er nicht viel machen – es sei denn, er findet eine geeignete Witwe.«
»Mach keine Witze darüber, Vater. Es ist bitter ernst.«
»Ich weiß, daß es ernst ist, Kind«, sagte Ascolini nachdenklich. »Aber wir wollen auch nicht in Wehklagen ausbrechen, sondern etwas tun.«
»Was zum Beispiel?«
»Dieses Mädchen, Anna Albertini. Ignoriere sie einfach. Wenn Carlo mit ihr an einem und einer Nonne am anderen Arm im Klostergarten Spazierengehen möchte: laß ihn. Er wird bald genug davon kriegen. Mitleid ist eine magere Kost für einen Mann von Fünfunddreißig. Wenn er's mit einer Witwe oder einem Vögelchen von der Straße versuchen will, ignoriere auch das. Zähme deinen Stolz und nimm ihn, wie er ist – und während du ihn für dich hast, sieh zu, ob du nicht etwas aus ihm machen kannst. Das ist durchaus möglich, weißt du? Und du hast dann was zu tun. Du hast ihn vor Gericht gesehen. Dort war er ein anderer Mensch. Du bist eine Frau. Vielleicht gelingt es dir, im Bett denselben Mann aus ihm zu machen. Sieh mal, Kind.« Er nahm ihre Hände in die seinen und drückte sie. »Immer ist einer da, der küßt, und einer, der die Wange hinhält. Manchmal lernt auch der, der die Wange hinhält, am Küssen Gefallen finden. Es ist einen Versuch wert, glaubst du nicht auch? Und wenn es nicht geht – was hast du verloren?«
»Nichts, nehme ich an. Aber siehst du nicht, Vater: ich bin einsam jetzt. Ich habe Angst.«
»Warte, bis du in mein Alter kommst«, sagte Ascolini. »Wenn der letzte Winter da ist und du gewiß weißt, es gibt keinen Frühling mehr. Mut, Mädchen! Kopf hoch! Mal dich neu an und laß uns sehen, was für Karotten wir für den vornehmen Esel finden können, den du geheiratet hast.«
Der Anblick des Hospizes zum Guten Hirten war furchterregend. Eine hohe Tuffsteinmauer mit Eisenspitzen und Glasscherben darauf umgab das ganze Grundstück, und das schmiedeeiserne Tor war mit Maschendraht versehen. Dahinter lag das Hospiz, ein altes, vier Stockwerke hohes Kloster, fest wie eine Burg, mit nackten Fenstern und einer deplaciert wirkenden Fernsehantenne auf dem alten Ziegeldach. Ein ältlicher Pförtner öffnete ihnen und ließ sie mit einem nicht eben herzlichen Grußwort eintreten. Ein paar Insassen starrten ihnen vom Rasen aus nach – mit stumpfen, gleichgültigen Blicken. Eine junge Nonne schnitt mit hochgerollten Ärmeln Blumen, umgeben von einer Gruppe Frauen, die ohne erkennbare Anteilnahme herumstanden. Der Gedanke an all das Elend in dieser Anstalt bedrückte Landon. Aber seine Gedanken blieben bei Carlo – und der Gefahr, in der er sich befand.
Die Schwester Pförtnerin, eine Frau mit einem Pferdegesicht, gütigen Augen und einem unsicheren Lächeln, öffnete die Haustür und geleitete sie in das Besucherzimmer, einen großen kahlen Raum, ausgestattet mit hochlehnigen Stühlen, Christusstatuen und Darstellungen der Erscheinung von Lourdes. Während sich die Pförtnerin auf die Suche nach der Oberin begab, wuchs Landons Widerstand gegen die bevorstehenden Stunden in dieser Atmosphäre. Doch Carlo tröstete ihn und sagte:
»Mach dir nichts draus, Peter. Man will uns offenbar erst einmal mit der hier herrschenden Frömmigkeit vertraut machen. Wenn Anna kommt, wird man uns gewiß in den Garten gehen lassen.«
»Ich würde Gott dafür danken«, sagte Landon trocken.
Rienzi lächelte ein bißchen schuldbewußt.
»Sei nicht zu böse auf mich, Peter. Schließlich ist das ja meine eigene Entscheidung, und ich muß die Konsequenzen tragen – angenehme und unangenehme.«
»Wirklich, Carlo?« sagte Landon. »Wenn du das tatsächlich glaubst, dann tu, was du nicht lassen kannst. Ich reise ohnehin morgen – was geht's mich also noch an?«
»Ich möchte, daß wir Freunde bleiben. Ich habe dich
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