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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Diesen Winkelzug hatte Nobunaga nicht erwartet. Während frische Truppen als Verstärkung anrückten, hatte er nur seine Söhne, seinen Feldwebel Ranmaru, seine persönliche Leibwache und einige Diener bei sich. Und seine Nichte Chacha, die einzige vertraute Person, die er stets in seiner Nähe duldete. Der Überfall auf den Tempel geschah mitten in der Nacht, als alle im tiefen Schlaf lagen. Die Angreifer töteten die Mönche, während Nobunaga und sein Gefolge in das Innere des Tempels flüchteten. Schon stürmten die feindlichen Soldaten in die Vorhalle, und jene, die sich mit Haken an den Mauern hochgezogen hatten, kamen über die Treppen. Nobunaga kannte einen Geheimgang. Konnten sie ihn erreichen, waren sie gerettet. Der Tempel stand bereits in Brand. Schon rasten Flammen über die Binsenmatten, sprangen an den Säulen empor. Das Feuer brach durch die Gipswände, Balken stürzten ein, der heiße Qualm brannte in den Augen und nahm jede Sicht. Nobunagas Söhne kämpften, um den Rückzug ihres Vaters zu decken. Sie verloren ihr Leben dabei. Ranmaru, treu ergeben, blieb bis zum Schluss bei seinem Herrn, bevor er durch Seppuku seinem Leben ein Ende setzte. Man fand seine Leiche in den Trümmern, als der Tempel, von Flammen zerfressen, zusammengestürzt war. Hier jedoch liegt ein großes Geheimnis, denn Nobunaga selbst wurde niemals gefunden. Nur sein Schwert, mit dem er wahrscheinlich seinen jungen Feldwebel enthauptet hatte, um ihm das Ende zu erleichtern, schimmerte in der glühenden Asche. Um sein Verschwinden rankten sich viele Legenden. Und manche erzählten, dass sie in den Gebirgswäldern rund um Kyoto einen Mann gesehen
hatten, mit weißem Haar und rötlich funkelnden Augen, der Fallen für Kleinwild legte und Eber mit einem Speer erlegte  – ein alter Einsiedler, der jedem drohte, der in seine Nähe kam, aber niemals ein Wort sprach. Und es gab Leute, die in seinem zerfurchtem, von Narben schrecklich entstellten Gesicht die Züge Nobunagas zu erkennen glaubten. Ja, die Geschichte spricht mit verschiedenen Zungen, und vielleicht ist es wahr.
    Doch meine Fantasie weiß eine andere Erklärung. Habe ich gesagt, dass Nobunaga, tief in seinem Herzen, ein Mann von Ehre war? Statt die Gefährten zu opfern und sich in Sicherheit zu bringen, kämpfte er an ihrer Seite bis zum Schluss. Doch Chacha rief er einen Befehl zu. Und Chacha sah den Augenblick gekommen, ihren Auftrag zu erfüllen. Der Daimyo hatte sie mit einem Eid gebunden und ihr diese Aufgabe übertragen, wohl wissend, dass seine Söhne jederzeit ihr Leben auf dem Schlachtfeld verlieren konnten. Die Zeit verändert sich nie, sie geht weiter, ohne zu eilen, ohne zu zögern. Und doch, in manchen Momenten scheint sich die Zeit zu beschleunigen. Chacha hatte nur einen Atemzug, um die Geheimtür zu erreichen. Die befand sich gleich hinter einer Schiebewand und war ebenfalls aus Gips. Chacha hob den Riegel auf, zwängte sich durch die schmale Öffnung  – und war verschwunden.
    Sie entkam also. Manche sagen, auf wunderbare Weise. Tatsächlich gelang es ihr, sich im Schutz der Dunkelheit zu den Pferden zu schleichen und ihren Schilfdrachen loszubinden. Da die Nacht mondlos war, konnte sie ungesehen davonreiten. Sie war so oft mit dem Daimyo geritten, dass sie verschiedene Wege kannte. Die genaue Ortskenntnis half ihr, sich in der Dunkelheit zu orientieren. Ihr Ritt nach Azuchi dauerte drei Nächte; tagsüber verbarg sie sich in den Wäldern, schlief, sammelte ihre Kräfte. Keiner weiß, welche Gedanken ihr damals durch den Kopf gingen. Am dritten Tag,
zur Mittagsstunde, erreichte sie Azuchi. Sie fand die Schlossbewohner in Aufregung und Angst. Gerüchte waren bereits an ihr Ohr gedrungen. Chacha wusste, hinter ihr hatte sich ein Heer von mehreren Tausend Kriegern auf den Weg gemacht. Es gab eine Regel im Krieg: den Geschlagenen keine Zeit zu lassen, ihre Kräfte zu sammeln. Chacha bat Nobunagas Gattin und die beiden Nebenfrauen, sich mit ihren Kindern unverzüglich in Sicherheit zu bringen. Es gab Burgen in den Bergen und tief in den Wäldern, die zu erobern schwierig sein würde. Die Frauen weinten. Ob der Daimyo noch lebte? Chacha vermochte sie nicht aus ihrer bangen Ungewissheit zu erlösen. Sie erteilte den Frauen den Rat, nur ihre persönlichen Sachen mitzunehmen und auf Gegenstände zu verzichten, die ihre Flucht erschweren

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