Tochter des Windes - Roman
zu leben, ist, mich zu nehmen, wie ich bin.«
»Das sieht man doch sofort, dass es nicht anders geht«, sagte ich.
Sie lachte wieder, wobei sie eine kleine Grimasse zog.
»Nein, das ist es ja eben. Man sieht es nicht! Im Grunde bin ich wie Tante Azai. Vielleicht sogar schlimmer.« Sie setzte hinzu: »Die Vorstellung, dass ich hundertacht Jahre alt werden könnte, finde ich allerdings abscheulich.«
»Sag mal«, fragte ich, »wird sie mich mögen?«
Sie bewegte zweifelnd den Kopf hin und her, wie sie es oft zu tun pflegte.
»Lass es mal darauf ankommen. SchlieÃlich bist du ein Gaijin .«
»Ein was?«
»Ein Ausländer. Es könnte sein, dass sie Nachsicht mit dir hat. Oder dich zumindest interessant findet.«
»Vielleicht gibt es einen Fall von mysteriöser elektrischer Anziehung zwischen deiner Tante und mir.«
»Zwischen Tante Azai und dir?«
Sie lachte so, dass sie ihre Serviette fallen lieÃ. Sie tauchte unter den Tisch, tastete über dunklen Boden und über meine FuÃknöchel. Ich kroch ihr nicht nach, sie war schneller als ich und auch nicht eins neunzig lang. Und es machte ihr auch nichts aus, in Restaurants unter die Tische zu krabbeln.
» Gomennasai! «, murmelte sie etwas atemlos, als sie in entzückender Haltung wieder vor mir saÃ. »Glaub mir, eine wie Tante Azai gibt es nicht zweimal.«
»Und eine wie dich erst recht nicht!«, sagte ich kopfschüttelnd.
Sie zeigte wieder ihr kleines, schiefes und sehr ambivalentes Lächeln; dieses Lächeln gab mir einen StoÃ, weil mir plötzlich bewusst war, dass ich mein Leben in ihre zarten, ungeschickten Hände gab. Sie hielt es behutsam, mit unbeschreiblichem Charme. Sie brachte mir gegenüber viel Takt
und Geduld auf, hielt aber die Zügel straff  â und war ehrlich genug, mich zu warnen. Ich überlieà mich  â treudoof, würde Amalia sagen  â dieser Führung. SchlieÃlich hatte ich nicht die geringste Ahnung, was mich in Japan erwartete. Der siebte Himmel oder der dritte Kreis der Hölle?
Â
Als ich Mia zu ihrem Hotel zurückbrachte, war es zwei Uhr nachts. Ich ging mit auf ihr Zimmer, und danach schliefen wir nicht mehr viel. Um sechs wurden wir geweckt. Mia packte ihren kleinen Koffer. Um sieben war Frühstück, Mia warf die Kaffeekanne um und musste schnell in der Toilette das T-Shirt wechseln. Dann kam das Taxi, das sie zum Flughafen brachte. Im Wagen lehnte Mia den Kopf an meine Schulter. Meine Hand suchte nach ihrer. Sie nahm die suchende und drückte sie einen Augenblick lang an ihre Brust. Ich fühlte die atmende Wärme durch das dünne T-Shirt hindurch.
»Rainer?« flüsterte sie.
»Ja?«
»Du fehlst mir schon jetzt«, sagte sie mit leiser Stimme. Und das war für mich die wunderbarste Liebeserklärung, die mir je eine Frau geschenkt hatte.
»Ich war wahnsinnig glücklich mit dir«, sagte ich, ebenso leise. »Ich lasse dich nicht so leicht wieder los.«
»Das ist ja das Schöne«, antwortete sie. »Dass ich mich auf dich freuen kann.«
Sie hob das Gesicht. Ich küsste sie. Sie trug keinen Lippenstift. Ihr Mund hatte einen frischen Hauch nach Zahnpasta. Als wir  â nach einer ganzen Weile  â unsere Lippen endlich voneinander lösten, sagte ich matt: »Jetzt bleibt mir nur mehr, die Zeit totzuschlagen. Mein Flug geht erst morgen um vierzehn Uhr.«
»Es gibt noch viele Dinge, die wir nicht gesehen haben«,
murmelte sie ohne Ãberzeugung. »Du kannst das jetzt nachholen.«
Ich drückte sie enger an mich.
»Mich interessiert nichts mehr.«
Wir fuhren durch die Randbezirke, die viel Beton, ungeputzte Fenster und alte Gärten zeigten und kaum bevölkert schienen. Der graue Hinterhof der goldenen Stadt, in dem nur noch jene lebten, die nicht wegkonnten. Um diese Zeit waren noch wenig Pendler unterwegs, der Verkehr war flüssig. Nach einer Viertelstunde hielt das Taxi vor dem Flughafen. Ich begleitete Mia in die Halle, die bereits übervoll von Touristen war. Alle schoben ihr Gepäck, standen Schlange, füllten Papiere aus. Wir stellten fest, dass Mias Flug bereits aufgerufen war.
»Es ist besser, ich gehe schon jetzt«, sagte sie. »Da, sieh mal die vielen Leute!«
Ich konnte ihr nicht sagen: »Bleib noch ein paar Minuten.«  â Wozu?
»Gib schön auf dich
Weitere Kostenlose Bücher