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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Aufzug kam. Meine Kleider rochen noch nach Jet, aber ich fühlte mich in absoluter Topform. Die lokale Uhrzeit war neunzehn Uhr dreißig.
    Mia saß in einem beigen Ledersessel, neben einer umwerfenden Ikebana-Kreation: rote Päonien und blaue Hortensien, ein inspiriertes Zauberwerk, total gesponnen und absolut fantastisch. Als sie mich sah, erhob sich Mia graziös, schwebte mir entgegen wie auf kleinen Wolken getragen. Selten hatte ich eine Frau gesehen, die sich so elegant und leichtfüßig bewegte.
    Â»Noch müde?«, fragte sie.
    Â»Ich fühle mich wie neugeboren«, sagte ich und meinte es ernst.
    Sie blinzelte amüsiert.
    Â»Hunger?«
    Die Frage war berechtigt: Vor lauter Sex hatte ich kaum ans Essen gedacht.
    Â»Etwas könnte ich schon vertragen.«
    Sie nickte mit gespieltem Ernst.
    Â»Ja, der Mann braucht Proteine.«
    Ich starrte sie einfältig an.
    Â»Welcher Mann?«
    Â»Du bist wirklich noch nicht ganz angekommen«, sagte sie kopfschüttelnd und sah dabei auf ihre Armbanduhr, die
praktisch, elegant und so schlicht war, wie es nur eine Männeruhr sein konnte.
    Â»Mein Bruder kommt in einer Stunde«, sagte sie. »Lass uns die U-Bahn nehmen.«
    Der Eingang zur U-Bahn befand sich gleich neben dem Hotel. Gelb gekachelte Stufen führten nach unten. Zielstrebig staksten Menschen die Treppen hinauf und hinunter, alle schön brav rechts oder links, damit kein Gedränge entstand. Die Leute verteilten sich in den vielen Gängen, liefen agil an uns vorbei oder hasteten uns entgegen, sodass ich oft nicht wusste, auf welche Seite ich ausweichen konnte. Die Geräusche der vielen tausend eiligen Schritte hallten in meinen Ohren wider. Die unterirdischen Hallen und Korridore waren von Boutiquen, Cafeterien, Bars, Imbissstuben und Restaurants gesäumt, dazu jede Menge Modeboutiquen. Stimmen kamen durch Lautsprecher, und die Züge auf den Gleisen oder unter den Tunneln erzeugten ein unentwegtes Dröhnen und Brummen. Mia zeigte mir, wie man die Fahrkarten am Automaten löste. Die Automaten piepsten und rasselten unentwegt, aber es war weniger schlimm, als es den Anschein erweckte. Nach einigen Augenblicken hatte ich die Sache kapiert. Mia reichte mir die kleine Fahrkarte, ging voraus, und ich folgte ihr durch die elektronische Sperre. Auf dem Bahnsteig waren Linien aufgemalt, die uns zeigten, wo wir stehen bleiben mussten. Die Türen der ankommenden Bahn öffneten sich genau an dieser Stelle. Drinnen standen oder saßen alle dicht nebeneinander, lasen Zeitungen, Illustrierte, Comic-Hefte. Viele hörten Musik; das fadendünne Kabel lief aus ihren Ohren in die Schultertasche. Andere studierten ihre SMS; kein Blick  – weder nach rechts noch nach links. Der pure Autismus der Moderne. Es gab nur wenige Leute, die sich unterhielten. Es schien mir, als sei ich in eine Gesellschaft geraten, in der jeder nur in einem traumähnlichen
Zustand existierte, von den anderen zurückgezogen, stur und pausenlos damit beschäftigt, jedem Kontakt auszuweichen. Sobald der Zug in eine Station einfuhr, kam hektische Bewegung in das stille Gedränge. Die Aussteigenden kämpften sich ihren Weg zum Ausgang frei, und die Einsteigenden drängten ebenso verbissen in den Zug. Und keiner, der schon irgendwo stand oder sich irgendwo festhielt, rührte sich vom Fleck, wenn es nicht unbedingt sein musste. Mia und ich, eingeklemmt in der stickigen Wagenluft, schaukelten mit der Menschenwoge langsam vor und zurück. Mit meinen fast zwei Metern überragte ich beinahe alle auf peinliche Weise. Nicht dass die Japaner besonders kleinwüchsig gewesen wären, nein, es war meine eigene Körpergröße, die buchstäblich aus dem Rahmen fiel. Mein Gesicht schien schutzlos über allen Köpfen zu schweben, ich zog die Schultern ein, duckte mich, suchte Augenkontakt mit Mia.
    Â»Stoßzeit«, sagte sie. »Man gewöhnt sich daran.«
    Â»Bei uns ist das ja nicht anders«, meinte ich. »Aber bei uns wird geredet.«
    Weil wir Deutsch sprachen, warfen uns die Fahrgäste in unmittelbarer Nähe flüchtige, wenn auch interessierte Blicke zu. Dabei sahen sie uns nur von der Seite an, wandten den Blick aber gleich weg, wenn ich ihn erwiderte. Offenbar herrschte hier eine einzige Verhaltensweise: Diskretion!
    Mia erklärte mir  – leise, wie es sich gehörte  –, dass man in der U-Bahn die Nachbarn nicht

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