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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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jung …«
    Â»Wie bitte? Nicht mehr jung?«
    Â»Nicht mehr jung genug für gewisse Muster. Frühlingsblüten, Puppen, Federbälle oder Glöckchen sind Mädchen vorbehalten. Und ebenso die Länge der Ärmel, die bei Mädchen bis zu den Waden fallen dürfen. Bei verheirateten Frauen reichen die Ärmel nur bis zur Armmitte. Und dann die Farben ! Ich bin über dreißig; rosa oder himmelblau sähe an mir lächerlich aus. Ich darf üppige Muster tragen, aber die Farben sollen gedämpft sein. Ab fünfzig tragen die Frauen dann schlichte Muster, beige, violett oder lindgrün. Und wenn sie noch älter sind, meistens lila oder silbergrau.«
    Â»Kein Schwarz?«
    Â»Schwarz kann jede Frau tragen, zu festlichen Anlassen ist es sogar Pflicht. Auf diesen Zeremonie-Kimonos ist das eingewobene Familienwappen an fünf Stellen zu sehen: je eines auf den Ärmeln, zwei auf der Brust und eines zwischen den Schulterblättern. Der Kimono selbst ist aus schlichter Seide, nur Gürtelschärpe und Saum zeigen ein Muster.«
    Â»Dann besitzt du also Kimonos von deiner Mutter, die du nicht tragen kannst?«
    Sie nickte.
    Â»Ich hebe sie für eine Tochter auf, die ich nicht habe …«
    Â»Ach so, und wenn du nur einen Sohn hast?«
    Sie machte ein belustigtes Gesicht.
    Â»Dann muss ich warten, bis ich Großmutter bin und meine Enkeltochter sie tragen kann.«

    Â»Aber wenn du nur Enkelsöhne hast?«
    Â»Puh!«, rief sie lachend, »dann vergeht wieder eine Generation!«
    Â»Und die Kimonos sind immer noch da.«
    Â»In bestem Zustand!«
    Â»Kompliziert!«, seufzte ich.
    Â»Ja, aber das sind alte Gepflogenheiten. Heute ist man weniger konventionell. In Vintage-Boutiquen stapeln sich alte Kimonos, die von Erben verkauft werden, die keine Verwertung mehr dafür haben. Sie werden von jungen Frauen respektlos gekürzt und ohne Gürtelschärpe über Jeans getragen. Das sieht gut aus. Und heutzutage entwerfen Designer ganz neue Muster, sehr puristisch, sehr extravagant …«
    Â»Ich habe schon lange davon geträumt«, sagte ich, »eine junge Frau im Kimono auszuführen.«
    Sie nahm zärtlich meinen Arm.
    Â»Eben darum wollte ich dir eine Freude machen. Aber nur zu Neujahr!«
    Sie hatte mir ein Geschenk mitgebracht, ein paar Kadomatsu , in einem Strohgeflecht steckende Bambus- und Kiefernzweige, mit einer Orange verziert. Alle Hauseingänge, auch jene der Hochhäuser, waren mit diesem Glück bringenden Symbol geschmückt.
    Inzwischen war es fast elf Uhr geworden, die beste Zeit, um zum Tempel zu gehen. Da hatte ich also  – völlig nach Wunschdenken  – eine entzückend trippelnde Kimono-Lady am Arm, die allerdings keine fünf Schritte tun konnte, ohne lautstark zu schimpfen, war sie doch den vornehmen Einwärtsgang, zu dem sie der eng geschlungene Kimono zwang, nicht gewöhnt. Dazu kamen weiße Tabi -Socken, bei denen der große Zeh frei war wie der Daumen bei einem Fausthandschuh, sodass der Fuß die traditionelle Sandale gut halten konnte. Diese Sandale war aus Brokat, völlig untauglich
für den winterlichen Schneematsch. Mia klammerte sich an meinen Arm, um nicht in ihrem wundervollen Outfit auf dem Boden zu landen.
    Â»Du lieber Himmel!«, stöhnte ich. »Was trugen denn deine Ahnfrauen, wenn sie mal rennen mussten? Das kam doch vor, oder?«
    Mia lachte.
    Â»Dann trugen sie kniekurze Kimonos. Oder auch den Hosenrock der Männer, Hakama genannt. Und dazu Stoffschuhe mit rutschfesten Sohlen. Sie trugen sogar Shorts.«
    Â»Shorts? Damals?«
    Â»Klar doch! Sie waren aus leichter Baumwolle und wurden in der warmen Jahreszeit getragen.«
    Ich traute meinen Ohren nicht.
    Â»Im siebzehnten Jahrhundert?«
    Â»Auch schon früher, im Mittelalter.«
    Mia hing an meinem Arm, sodass wir nur langsam vorwärtskamen. Sämtliche Bewohner der umliegenden Quartiere hatten sich ebenfalls auf den Weg gemacht, sodass wir uns bald inmitten einer großen Menschenmasse befanden. Aber schließlich waren wir auf einem etwas erhöhten Platz angekommen und blickten auf das wuchtige Heiligtum, das von Fackeln beleuchtet war. Die geschweiften Türen standen weit offen, man sah die Priester in prächtigen Gewändern, die sich vor dem großen, golden und schwarz lackierten buddhistischen Altar verneigten und beteten. Das Gebäude war angefüllt

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