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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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nicht.«
    Â»Warum?«
    Â»Weil sich dahinter eine Geschichte verbarg, die Letzel eigentlich nichts anging.«
    Â»O.k.«, sagte ich. »Und dann?«
    Â»Den größten Teil der Strecke legten sie mit der Bahn zurück. Das japanische Schienennetz war bereits gut ausgebaut. Azai, die schulfrei hatte, durfte an dem Ausflug teilnehmen, unter der Bedingung allerdings, dass sie schön artig war und den Mund nur dann aufmachte, wenn sie gefragt wurde.«
    Â»Es fällt mir schwer zu glauben, dass sie dazu fähig war.«
    Â»Oh, von den Kindern wurde Gehorsam gefordert. Und keiner stellte die Notwendigkeit einer strengen Disziplin in Frage.«
    Â»Haben sich die Zeiten geändert!«, kommentierte ich.

    Mia nickte zustimmend und vertiefte sich wieder in die geheimnisvollen Texte.
    Es war eine strapaziöse Reise gewesen. Azuchi war ein kleines Nest, es gab noch keinen Bahnhofanschluss und auch keine Busse. Mutter musste ein Wägelchen mieten, das von einem Pferd gezogen wurde. Im Juni regnete es viel. Der Kutscher trug, wie in alten Zeiten, einen Strohmantel, um die Nässe abzuhalten, für den Regen gemachte Holzschuhe und als Kopfbedeckung einen breiten Hut, ebenfalls aus Stroh, an dem das Wasser herabrieselte. Mutter hielt einen Regenschirm, und mein Reisemantel war zum Glück aus gutem Stoff. Auch Letzel hatte sich warm eingepackt, trug robustes Schuhwerk und einen Filzhut. Es regnete schon seit Tagen, die Luft war von Feuchtigkeit durchtränkt, und die Reisäcker standen unter Wasser. Die weite Ebene stieg langsam an. Als wir endlich die Anhöhe erreichten, war sogar das Pferd erschöpft. Doch der Regen ließ allmählich nach, Dunstschleier zogen auf, und eine blasse Sonne leuchtete. Mutter befahl dem Kutscher zu warten, während wir drei Reisenden den Hang emporstapften. Weil das Schloss auf einem Berg stand, war kein Wallgraben vorhanden.
    An diesem hochgelegenen Punkt fühlten sich die Verteidiger sicher. Hatten sie genug Nahrungsmittel, konnten sie hier eine Ewigkeit durchhalten. Die Festung galt als uneinnehmbar. Der Hang war steil, der Wald zunächst dicht, lichtete sich aber allmählich, und die Luft wurde klarer. Die Sonne kam durch. Mein Herz bebte bei dem Gedanken, dass ich mich nun wirklich in der Nähe der ehrwürdigen Festung befand, die mein Ahne gebaut hatte. Und wenn ich mich umwandte und in die Richtung sah, aus der wir gekommen waren, erblickte ich in der Ferne, wie ein leuchtendes Auge, den Biwasee.

    Während Mutter und ich uns auf einen Stein setzten, um uns auszuruhen, wanderte Onkel Jan über das Gelände, wobei er sich eifrig Notizen machte. Er sagte oft, dass er, bevor er zu bauen begann, den Ort befragte. Und er entwarf erst den Plan, nachdem ihm der Ort geantwortet hatte. Wir saßen schweigend da, störten ihn zwar nicht in seinen Gedanken, aber ich ließ ihn nicht aus den Augen. Ich wusste, dass er mit den Steinen sprach, und das erfüllte mich mit Ehrfurcht. Es erschien mir wie eine übermenschliche Gabe, und ich glaubte wirklich, dass vor Onkel Jans innerem Auge das goldglänzende Schloss in seinem ganzen Prunk am Entstehen war. Die Seele ernährt sich von Bildern, Zauberkraft wohnt nur in der Fantasie. Vielleicht war Onkel Jans Sinn, der die Vision schuf, nach derselben Ordnung gelenkt wie die Sternbilder. Und vielleicht kam er als Architekt der Unendlichkeit näher, weil er sie in Zahlen ausdrückte, die ja auch Symbole sind.
    Â»Kann das eine Zwölfjährige verstehen?«, fragte ich verblüfft.
    Mia schüttelte den Kopf.
    Â»Nein, natürlich nicht. Das sind Überlegungen einer erwachsenen Frau. Aber Kinder haben Intuition. Azai wusste genau: Wie Letzel es machte, so musste man es machen, sich weit vom Gegebenen entfernen und sich unbefangen ins Herz der Dinge stürzen. Doch sie dachte auch praktisch und machte sich Sorgen, denn Letzel war von schlechter Gesundheit.
    Â»Und das Schloss?«, fragte ich. »War davon noch etwas zu sehen?«
    Â»Nicht viel«, sagte Mia. »Bis heute sind ja kaum Ausgrabungen durchgeführt worden. Erst 1989 wurden Mittel freigegeben, damit das Gelände neu erforscht wurde. Doch zu Letzels Zeiten lag die Anlage vernachlässigt und verwildert
da, von Buschwerk überwuchert und völlig der Natur zurückgegeben.«
    Die feuchten Nebel waren Gift für seine Lungen. Manchmal blieb er stehen, krümmte sich und hustete. Nach einer Weile

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