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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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schüttelte Mutter ihren nassen Regenschirm aus und trat zu ihm mit der Frage, ob er etwas Aufschlussreiches gefunden hatte. Onkel Jan erwiderte, er erkenne in dem Gewirr von Steinen das Werk der menschlichen Hand. Zur Rechten und zur Linken ragten Steinquader, von Unkraut überwuchert.
    Â»Hier!«, sagte er und deutete nach oben. »Die Rampe zum Schlosseingang.« Mutter folgte seinem Blick und nickte. Sie wusste, dass keine Treppe zum Schloss geführt hatte, sondern eine hölzerne Rampe. Sie war auf tief in den Boden gerammten Pfeilern gebaut gewesen. Die Steinquader hatten dazu gedient, die gewaltigen Pfeiler zu stützen. Auf der Rampe hatten sieben Reiter Seite an Seite Platz! Sie glich einer Riesenbrücke, die sich über Höfe, Gassen, schwer befestigte Häuser schwang, über künstlich angelegte Gärten, Schreine, Teehäuser. Die Rampe stieg immer höher an, warf ihren Schatten über Dächer und Bäume. Und bei jedem Schritt traten dem Besucher die Ausmaße der Burg stärker vor Augen. Auf dem Hauptturm funkelte die goldene Kuppel, die spiegelgleich die Sonne zur Sonne zurückschickte und das ganze Schloss mit einem Licht überzog, das wie gelbes Kristall war, glänzend und klar.
    Onkel Jan sah das alles vor sich, wie gemalt. Er sah auch die Stallungen und Kasernen für die Soldaten, das eisenbewehrte Riesentor, das in den ersten Innenhof führte. Vor seinem geistigen Auge schwangen die bronzenen Torflügel auf. Flankiert wurde das Tor auf jeder Seite von Gipsmauern, Mauern, in denen sich eine Reihe schmaler, mit
Holzstäben versehener Fenster befanden. Durch die Fenster konnten die Wachen die Besucher sehen und sie dem Schlossherrn melden. Es gab noch drei Tore, jedes prächtiger als das andere, mit vergoldeten Angeln, die zur Hälfte der Flügel reichten. Das letzte Tor führte in den Vorhof des Schlosses. Sein Anblick musste jeden Besucher wie ein Schlag in den Bauch treffen. Das Schloss war so groß wie drei Burgen auf einmal, nebeneinander und übereinander. Es krönte die Höhe, Terrasse über Terrasse, Reihe um Reihe von bemalten Säulen in dunkel glühendem Rot. Diesem einzigartigen Bauwerk hatte der Volksmund den Namen »Himmelsschloss« gegeben. Doch nichts blieb davon übrig. Die kahlen Steine, herb und nass, gemahnten an das rollende Rad der Welt, an die Zeit, die dahingeht und die unwiederholbaren Werke der Menschen rettungslos vernichtet. Mutter folgte Onkel Jan in einigen Schritten Abstand, ihre schmale Gestalt im schlichten Reisekimono schien mit den Bäumen verwachsen. Keiner von beiden nahm Notiz von mir. Ich fühlte mich plötzlich sehr müde, die Augen fielen mir zu. Ich schlief ein und hatte einen Traum  – oder eine Vision. Es war das erste Mal, dass das geschah, und es verstörte mich sehr.
    Noch heute entsinne ich mich an jede Einzelheit. Ich sah einen Reiter, der sich schnell und seltsam geräuschlos durch das Unterholz näherte. Das Pferd war von jener Art, die wir »Schilfdrachen« nannten: ein Schimmel mit scheckigem Muster, das sich wie kleine Wolken auf Brust und Flanken verteilte. Diese Reittiere wurden ihrer Kraft und Intelligenz wegen von den Adligen bevorzugt. Das Zaumzeug war von edelster Machart, mit bunten Schnüren und Troddeln versehen. Als der Reiter ganz nahe war, hörte ich, wie die lackierten Schuppen seiner Brustpanzerplatte mit dem goldenen Wappen klirrten. Unter der leichten Rüstung trug der
Reiter die seidene Hakama  – den Hosenrock der Krieger –, war jedoch barhäuptig. Da erkannte ich, dass es eine junge Frau war. Ihr langes Haar war zu einem Zopf geflochten, ihre Lippen purpurn gefärbt. Sie kam auf mich zu, ritt haarscharf an mir vorbei, sodass ich den Atem ihres Pferdes wie einen warmen Luftzug spürte. Im Vorbeireiten lächelte sie mich an. Ihre Zähne waren schwarz gefärbt  – das Merkmal der hochgestellten Damen  – und leuchteten zwischen den roten Lippen, als sie leicht den Finger auf den halb geöffneten Mund legte. »Kein Wort!«, befahl die knapp angedeutete Geste. Sie tauchte in die Nebel ein, so schnell, wie sie gekommen war. Und dann war sie verschwunden, und ich fühlte eine Hand, die sich auf meine Schulter legte, schreckte hoch und hörte die Stimme meiner Mutter, die mich weckte. »Azai-Chan, wach auf ! Du erkältest dich ja. Es wird Zeit, dass wir

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