Tod am Chiemsee (German Edition)
doch das lieferte ihr wenigstens einen guten Grund,
Gregor bald erneut zu besuchen.
Sie warf einen Blick über den See, der nun vor ihr lag wie ein
Spiegel und dem man seine unbändige Kraft nicht mehr ansah.
Dort draußen ist man verloren, hatte sie letzte Nacht noch gedacht.
Und dort draußen waren etwas und jemand lange
verloren gewesen.
Der Sturm war jedenfalls der Auslöser für die Unruhe, er hatte etwas
an die Oberfläche gebracht. In dieser Julinacht war der Tod aus den schäumenden
Wellen des Chiemsees aufgetaucht.
Schwester Althea überlegte, wie viel von der schaurigen Schilderung
tatsächlich zutraf und wie viel die Radiomoderatoren eigenmächtig dazu
fabuliert hatten.
Die Seglerin hatte man noch immer nicht gefunden. Dafür war ein
Fischer am Tag nach dem Unwetter auf ein großes Ding gestoßen, das auf der nun
ruhigen Oberfläche des Sees hin- und herschaukelte. Der Mann hatte kurzerhand
sein Netz ausgeworfen und den Gegenstand, der aussah wie ein überdimensionierter
Koffer, am Boot befestigt und hinter sich hergezogen. Als er seinen Anleger
erreicht und das Ding von Algen, Schlamm und Dreck befreit hatte, hebelte er
den Deckel auf. Es war der Tod, der ihm entgegengrinste. – So jedenfalls hatte
es der anonyme Anrufer der Polizei geschildert. Seinen Namen nannte er nicht,
nur wo er seinen Fund abgestellt hatte, verriet er dem Beamten.
In dem Koffer lagen zwei Skelette.
»Knochen … erst sind es Leichen, dann setzt die Verwesung ein, aber
wann werden daraus Knochen?« Althea stellte die Frage niemand Bestimmtem. Doch
einer würde eine Antwort darauf finden müssen.
Einige Tage lang herrschte eine Flaute, die in Altheas Augen nur
die Ruhe vor einem erneuten Sturm sein konnte. Eine Warnung gab es diesmal
nicht.
Sie erfuhr die Neuigkeit erst nach dem Mittagsmahl, das die
Schwestern alle gemeinsam an einer langen Tafel im Refektorium einnahmen. Man
hatte dem Herrn wie jeden Tag für das Essen gedankt, doch die Priorin,
Schwester Jadwiga, hatte, noch bevor das Tischgebet beendet war, mit ihrer
Stellvertreterin geflüstert. Das Flüstern machte Althea argwöhnisch, weil Jadwigas
Blick immer wieder an ihr hängen blieb.
Schwester Jadwiga war eine große, schlanke Frau mit Argusaugen und
einem Oberlippenbart. Sie wandte sich an Althea: »Ein Kriminalkommissar vom
Dezernat München 11 wird wegen der Knochen in diesem Koffer Ermittlungen
anstellen. Sein Name ist Stefan Sanders, und wie man mir sagte, ist der junge
Mann dein Neffe. Ich habe ihm ein Zimmer im Kloster angeboten. Dann braucht er
keine Neugierde und keine Fragen zu fürchten, außerdem hat er hier Ruhe und
einen Internetzugang.« Ihre Rede untermalte sie mit anschaulichen Gesten – die
Neugierde mit einer langen Nase, die Ruhe mit einer Hand aufs Herz und den
Internetzugang, indem sie die Hände weit auseinanderbreitete.
Althea seufzte vernehmlich, denn Gäste wurden für gewöhnlich im
Gästehaus neben dem Kloster untergebracht. Außerdem stimmte nur die Sache mit
dem Internetzugang.
Ein Zimmer im Kloster für den Kriminalkommissar, das würde die
Neugierigen in Scharen anlocken und Althea in der nächsten Zeit zur
meistgefragten Schwester der Abtei machen. Ein Prominentenstatus, der ihr gar
nicht behagte.
»Damit sitzt du sozusagen an der Quelle. Wenn es Informationen gibt,
die uns oder die Insel betreffen, dann wirst du mir das doch sagen …« Es war
keine Frage. Es war eine Rückversicherung.
Als ob ihr Neffe mit seiner Tante über einen aktuellen Fall reden
würde. Oder einen nicht so aktuellen Fall, denn es handelte sich ja um Gebeine.
Althea schenkte Schwester Jadwiga ein dünnes Lächeln. »Stefan wird
den Teufel tun, mir irgendetwas von Wert aufzutischen.« Althea hatte ihren
Neffen seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie waren sich fern, und das nicht nur
in Kilometern.
»Schwester Althea, über diesen Herrn wollen wir gar nicht reden.«
Nein, über diesen Herrn will niemand reden. Teufel auch! Althea
grinste. »Schwester Jadwiga, du entschuldigst mich … unser Sommernachtsfest. Es
gibt noch so viel zu organisieren.«
Gab es tatsächlich, aber zuerst gab es etwas zu überdenken.
Friederike Villbrock war hier auf Frauenchiemsee. Ein Koffer voller
Knochen war aufgetaucht. Altheas Neffe, der Kriminalkommissar, würde in Kürze
eintreffen, um Ermittlungen anzustellen. Und er würde im Kloster wohnen.
Das war ein Eintopf, den Schwester Althea reichlich ungenießbar
fand.
Aber noch fehlten ein oder zwei
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