Tod am Nil
Morgendämmerung.
Er fragte sich, was den Medjay so dringend abberufen hatte. Daß Pferde geschickt worden waren, ließ darauf schließen, daß es um etwas Wichtiges ging. Diese Tiere waren selten und normalerweise der königlichen Familie, der Aristokratie und den kleinen Eliteeinheiten der Kavallerie Vorbehalten.
»Worüber denkst du nach?« Taheb stand neben ihm.
»Der Hauptmann ist weggerufen worden. Ich frage mich, weshalb.«
»Das ist schade.«
»Ich finde es aufregend.«
»Zumindest konntest du dich mit ihm unterhalten.«
»Hast du mich deshalb eingeladen?«
Taheb lächelte. »Welche Hintergedanken du hast! Du solltest lieber aufpassen, denn sonst bringt deine Arbeit dich noch dazu, überall mißtrauisch zu sein. Wir handeln nicht immer nur aus niedrigen Motiven, weißt du.«
»Es tut mir leid.«
Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. Sie fühlte sich warm an.
»Aber du fragst dich vermutlich aus gutem Grund, warum ich dich nach so langer Zeit hergebeten habe.« Sie schwieg und wägte ihre Worte ab. »Es stimmt, ich wollte, daß du Merymose kennenlernst. Er ist ein alter Freund von mir, und ein guter. Ich dachte mir, es wäre hilfreich für dich, einen vertrauenswürdigen Mann bei den Medjays kennenzulernen.«
Huy sah sie an.
»Damals habe ich dir nicht geholfen«, fuhr Taheb ohne ihre gewohnte Selbstsicherheit fort. »Ich war nicht sicher, ob dir meine Hilfe willkommen gewesen wäre. Und nach Amotjus Tod gab es auch so vieles zu erledigen.«
Huy erinnerte sich, daß eine der ersten Erledigungen darin bestanden hatte, daß sie ihm das mit ihrem Mann vereinbarte Honorar gezahlt hatte. Er hatte es ablehnen wollen, aber die Not hatte sein Ehrgefühl besiegt.
»Merymose hat mir gefallen. Es wird sich noch eine Gelegenheit ergeben, sich mit ihm zu treffen und ein richtiges Gespräch zu führen. Weiß er, wer ich bin?«
»Ich habe es ihm nicht erzählt, aber wenn er neugierig ist, braucht er ja nur in die Akten zu schauen.«
»Er hat keinen Grund, anzunehmen, daß ich drinstehe.«
»Er ist ein guter Polizist. Die politische Rolle, die Haremheb den Medjays aufgezwungen hat, paßt ihm nicht. Was hast du ihm denn von dir erzählt?«
»Daß ich selbständig bin. Er hat mich nicht weiter bedrängt.«
»Und wenn er es getan hätte?«
»Dann hätte ich ihm, glaube ich, die Wahrheit gesagt. Du bist eine gute Menschenkennerin, Taheb.«
Sie drückte seinen Arm. »Glaube nicht, daß ich dich nur eingeladen habe, damit du Merymose kennenlernst. Komm und besuche mich wieder einmal.«
Die Sonne stand schon über den Dächern, als Huy in das dichtbevölkerte Viertel hinunterkam, in dem er wohnte, und auch wenn in dieser tristen Jahreszeit weniger Leute als sonst unterwegs waren, erwachten die engen Straßen doch allmählich zum Leben. Er ging zügig, um einen klaren Kopf zu bekommen, und beschloß, einen Umweg zum Hafen hinunter zu machen, um sich den Obelisk anzusehen. Der anregende Abend, sein kurzes Eintauchen ins Leben der Reichen, die Gesellschaft anderer Leute - das alles war vorüber, und Leere war an deren Stelle getreten. Niemand wartete auf ihn, niemanden kümmerte es, ob er arbeitete oder nicht. Und daß er nichts zu arbeiten hatte, vergrößerte seine Niedergeschlagenheit nur. Er dachte an seine letzten Tage in der alten Stadt, als er sich im verfallenden Hafen herumgetrieben und planlos die Zeit totgeschlagen hatte. Er hatte das Gefühl, daß er es seitdem nicht weitergebracht hatte.
Nach einer Woche war der Obelisk kein Gegenstand der allgemeinen Neugier mehr. Der Kornmakler hatte recht gehabt; der Stein lag inzwischen auf Holzrollen, aber Huy war der einzige Zuschauer, als eine kleine Gruppe von Arbeitern mit einem Aufseher sich daran machte, den mächtigen Kloben mit einem komplizierten Seilgeschirr zu umflechten. Sie arbeiteten angestrengt und schnell, und bald waren sie mit ihrer Aufgabe fertig. Ein Ochsentreiber führte ein zehnköpfiges Gespann herbei, das ins Joch genommen und an die Zugseile gespannt wurde, und keine halbe Stunde später setzte sich der massige Granitklotz unter großem Geschrei und Peitschenknallen in Bewegung und glitt unendlich langsam über die ächzenden Rundhölzer. Ein frischer Trupp Männer trug die hinteren Balken, über die der Obelisk schon geglitten war, eilig nach vorn, um sie wieder unter die Nase des Obelisken zu legen, während die Ochsen, die geduldigen Köpfe vor Anstrengung tief gesenkt, gleichmäßig über die hartgebackene Erde des Hafenplatzes
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