Tod an der Förde
viele andere Menschen?«
»Davon gehe ich aus, aber …«
Erneut unterbrach ihn Lüder.
»Seit dem Zweiten Weltkrieg hat es noch nie in Europas
Geschichte eine so lange Phase des Friedens gegeben, wie unsere Generation sie
jetzt erleben durfte. Diese Tatsache, die sicher eine Leistung der Politiker
gleich welcher Couleur ist, sollten Sie entsprechend würdigen.«
»Trotzdem wird deutsche Hochtechnologie eingesetzt, um
Menschen zu töten.«
»Das trifft zumindest bei den U-Booten nicht zu. Sie
können mir nicht einen Fall belegen, in dem hier produzierte Schiffe an
kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligt waren. Und deshalb sind auch die
gewaltsamen und strafrechtlich relevanten Aktionen Ihrer Gruppe gegen die Werft
und ihre Mitarbeiter nicht hinnehmbar.«
Potthoff-Melching sprang so erregt in die Höhe, dass
der Sitzball davonrollte.
»Wir führen nur mahnende Worte als Waffe. Zu keinem
Zeitpunkt haben wir uns zu tätlichen Übergriffen verleiten lassen.«
»Und die Auseinandersetzung in der Fußgängerzone? Kam
es da nicht zu einem Gerangel mit dem Werftarbeiter?«
»Der junge Mann war etwas impulsiv. Aber ich bin
sofort dazwischengegangen.«
»Und wer hat den Zettel mit den Drohungen gegen Dennis
Altrogge verfasst, der an seinem zerschrammten Auto hinterlassen wurde?«
»Davon weiß ich nichts«, entgegnete Potthoff-Melching
und fuhr sich nervös mit der Hand durch den Kranz abstehender Haare. »Aber ich
distanziere mich von jeglicher Form von Gewalt.«
»Obwohl das nicht immer richtig ist«, mischte sich
eine dunkle Stimme ein. Lüder gewahrte erst jetzt den jungen Mann mit den
dichten dunklen Schopf, der im Türrahmen stand.
»Und wer sind Sie?«, fragte er.
Der Mann trat in das Zimmer und ließ sich in den
zweiten Sitzsack fallen.
»Jesus Raúl Urquía«, stellte er sich vor. Er sprach
Deutsch mit einem spanischen Akzent.
»Sie kommen aus Argentinien?«
»Sí. Ist das verboten?«
»Jesus studiert in Kiel und hat sich während seines
Aufenthaltes in Deutschland unserer Gruppe angeschlossen«, erklärte
Potthoff-Melching.
»Was studieren Sie?«
»Was studiert man schon in Kiel. Natürlich
Volkswirtschaft. Im Nebenfach Soziologie.«
»Und Sie unterstützen die Ideale der
Friedensbewegung?«
In den dunklen Augen des jungen Mannes funkelte es.
Jetzt erkannte Lüder ihn wieder. Er hatte ihn auf den Bildern gesehen, die der
chilenische Journalist von der Demonstration in der Fußgängerzone geschossen
hatte. Er war der Mann im Hintergrund.
»Fred hat in manchen Punkten Recht«, erklärte Urquía,
wurde aber sofort von Lüder unterbrochen.
»Fred? Wer ist Fred?«
Urquía zeigte auf Potthoff-Melching.
»Wieso Fred?«, fragte Lüder, an den Lehrer gewandt.
»Ich heiße David Friedrich Potthoff-Melching«,
erklärte dieser.
»Und David ist ein zionistischer Name, den ich nicht
verwenden will. Also sage ich Fred zu ihm.«
»Fred von Friedrich«, ergänzte Potthoff-Melching.
»Kann ich jetzt weitersprechen?« Urquías Stimme klang
zornig. »Das Unrecht in dieser Welt gehört ausgemerzt. Und da sich die
herrschenden Klassen immer der Gewalt und des legalen Unrechts bedienen, bleibt
der Mehrheit nur, gleiche Mittel anzuwenden. Sehen Sie, die Diktatur in meiner
Heimat hat zahlreiche Menschenleben gekostet. Ist es nicht vertretbar, wenn
wir, die wir ganz unten sind, uns wehren?«
»Indem Sie auch Gewalt ausüben?«
»Wenn es sein muss …«, wich Urquía aus.
»Sie schrecken also weder vor Sabotage noch vor Mord
zurück?«
»Feiger Mord ist kein geeignetes Mittel, um die Ziele
durchzusetzen«, gestand der Argentinier ein. »Aber mit Worten allein können Sie
die Eskalation der Gewalt nicht verhindern.«
»Und so nehmen Sie den Tod des Commodore und den des
Staatsanwalts billigend in Kauf?«
»Ich achte Menschenleben, aber beim Abwägen eines
gegen viele sind Kollateralschäden zwar bedauerlich, aber manchmal
unausweichlich.«
»Haben Sie etwas mit den Morden zu tun?«
»Nein!« und »Ich kann sie verstehen«, antworteten
beide gleichzeitig, wobei das klare Dementi aus Potthoff-Melchings Mund kam.
»Wo waren Sie gestern Abend?«, fragte Lüder.
»Wir waren hier, in meiner Wohnung, und haben künftige
Strategien diskutiert«, antwortete Potthoff-Melching und zeigte auf zwei leere
Rotweinflaschen, die neben dem Schreibtisch standen.
»Nur Sie beide?«
»Ja. Kein anderer. Und wir sind auch nicht gestört
worden. Ich hatte extra das Telefon abgeschaltet, weil Sie als Lehrer sonst bis
in
Weitere Kostenlose Bücher