Tod Auf Dem Jakobsweg
konnten.
Eine Nonne am Pult vor dem Hauptaltar begann zu singen, «Magnifikat, Magnifikat...» Zur nächsten Melodie forderten ihre Hände die Gemeinde auf, einzustimmen, die Antwort aus den einigen hundert Kehlen blieb dünn. Erst als ein Priester in farbenfrohem Ornat ihre Stelle einnahm, ein Mikrophon einschaltete und den deutschen Text sang — «Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren...»-, schwoll der Chor zum innigen, kraftvollen Gesang. Das alte Kirchenlied eines protestantischen Bremer Predigers wurde in zahlreichen Sprachen in der ganzen christlichen Welt gesungen. In diesen Bänken saßen heute eindeutig überwiegend deutschsprachige Pilger. Auch Leo sang mit, die vertraute, lange nicht mehr gehörte Melodie und der gemeinsame Gesang ließen sie sich endlich als eine von vielen fühlen, in der Fremde, doch aufgehoben und nicht mehr allein.
Selbst Sven und Felix sangen mit, wenn auch textunsicher und dünn, Ennos überraschend schöner Bariton übertönte sie leicht.
Als der Priester begann, die lange Liste der Herkunftsorte all derer zu verlesen, die sich heute im Pilgerbüro in der Rúa do Vilar hatten registrieren und ihre Urkunde ausstellen lassen, schweiften Leos Gedanken wieder ab. Die Nachrichten aus dem Hamburger Archiv steckten in ihrem Tagesrucksack, sie hielt ihn fest auf dem Schoß. Sie hatte nicht vergessen, dass sie in Ponferrada das Gefühl gehabt hatte, jemand habe in ihrem Gepäck gestöbert.
«Was denkst du?», flüsterte Nina plötzlich. «Wann rufen wir an?»
«Sobald wir im Hotel sind», raunte Leo zurück. Hoffentlich erwies sich Inspektor Obanos als geduldiger Mensch, sie würde viel zu erklären haben. Und hoffentlich nahm Nina nicht übel, dass sie ihr vorenthalten hatte, was auf den Seiten des Faxes stand.
Ein Raunen ging durch die Menge. «Jetzt ist die botafumeiro an der Reihe», rief Jakob halblaut. Alle reckten schon die Hälse. Die Sache mit dem Weihrauchkessel mochte einst zur Ehre des verehrten Heiligen erdacht worden sein, heute war sie ein großartiges Event selbst für absolut Ungläubige. Kein Tourismusmanager hätte das besser erfinden können. Was wiederum nicht erstaunlich war, von jeher gehören religiöse Rituale ebenso wie die in gleicher Weise beeindruckende und einschüchternde Prächtigkeit vieler sakraler Räume zu den missionarischen Verführern. Nicht nur in ihren ketzerischen Momenten war Leo davon überzeugt, dass Tourismusmanager und Kirchenmänner sowieso vieles gemeinsam hatten.
Unter der Vierung, wo sich Lang- und Querhaus kreuzen, hatten sich sieben Männer in dunkelroten Mänteln über schwarzen Hosen um den nahezu brunnengroßen, noch aus dem Mittelalter stammenden Silberkessel geschart. Aromatischer Rauch stieg von ihm auf, er wurde an in der Decke verankerten Tauen ein Stück hochgezogen, und das Spiel begann. Unter dem anschwellenden Raunen des staunenden Publikums gaben die Männer dem Kessel immer mehr Schwung, noch mehr und noch mehr, bis er schließlich hoch über den Köpfen der in den Bänken beider Flügel des Querschiffes nach oben starrenden Menschen hin und her sauste und sein Schwung die großen Weihrauchschwaden durch die Kathedrale trieb. Eine Frau sprang erschreckt auf und brachte mit geduckten Schultern ihre beiden Kinder in Sicherheit, ihr Begleiter folgte widerwillig, und Jakob erklärte rasch, seines Wissens sei die botafumeiro noch niemandem auf den Kopf gefallen.
«Toll», seufzte Rita aus tiefstem Herzen, «wirklich toll», und fuhr unwirsch murmelnd fort: «Selbst schuld, der Idiot, wenn er sich das entgehen lässt.»
Erst jetzt bemerkte Leo, dass sie nicht vollzählig waren. «Wo ist Fritz?», fragte sie leise.
«Keine Ahnung», flüsterte Rita zurück. «Er hat was zu erledigen. Was das wohl sein kann? Ich bin sicher, er hängt nur wieder am Telefon.»
Leo wollte die Gelegenheit nutzen und neugierig fragen, mit wem er denn so oft telefoniere, doch die Show mit dem Weihrauchkessel war vorbei, die Messe nahm ihren Verlauf, und von der hinteren Bank forderte eine Stimme zischend Ruhe und angemessene Andacht.
Das Hotel war ein modernes, zehn Stockwerke hohes Gebäude in einer Straße, deren Häuser zumeist aus dem 19. Jahrhundert stammten, Geschäfte mit großen Schaufenstern und Restaurants mit dreisprachigen Speisekarten im Parterre, geräumige Büros im ersten Stock, darüber Wohnungen, in denen gewiss keine armen Leute wohnten. Auch in der Hotelhalle, die ungemein an die ihres Hotels in León
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