Tod Auf Dem Jakobsweg
Mensch ist für das verantwortlich, was er tut. Ich denke nur, die Sache mit dem freien Willen ist kompliziert. Benedikts vermeintliche Schuld war ihre fixe Idee, mit der hat sie sich all die Jahre über Wasser gehalten. Damit will ich keineswegs entschuldigen, was sie getan hat, ich versuche nur, es mir zu erklären. Es muss für sie die einzige Möglichkeit gewesen sein, die eigene Schuld zu ertragen. Oder zu ignorieren.»
«Genau. Und das geht nicht. Die eigene Schuld kann man nur selbst tragen. Und versuchen, abzutragen. Und wenn man das nicht schafft», Nina hob ungeduldig die Schultern, «ich weiß auch nicht. Jedenfalls kann man sich nicht einfach einen Sündenbock suchen und ihm auch noch nach dem Leben trachten. Eine solche Rache ist eitel, dumm und selbstgefällig. Sie schafft nur neue Schuld und noch mehr Leid. Glaub mir, ich weiß, Wovon ich rede.»
Leo schwieg. Eigentlich wollte sie gar nicht so genau wissen, was im Kopf dieser plötzlich fremden Frau vorgegangen war. Sie wollte sich einen Rest ihrer eigenen Vorstellung erhalten, selbst wenn die zu positiv war. Und sie wollte jetzt auch nicht darüber nachdenken, was geschehen wäre, wenn Nina nicht ein ungutes Gefühl gehabt hätte, als Leo so lange brauchte, um die vergessenen Bögen zu holen. Und was geschehen wäre, wenn der gerade eingetroffene Inspektor Obanos sie nicht hinauf in den achten Stock begleitet und die Tür von einem ihren Wagen vorbeischiebenden Zimmermädchen hätte öffnen lassen, nachdem er hinter der Tür laute Stimmen hörte.
Hedda, tatsächlich Vera Emmerich mit dem Pass ihrer Schwester, war an der Wand in Leos Zimmer hocken geblieben, bis der Raum plötzlich voller Polizisten war. Es war schnell gegangen.
Die Männer der Policía Nacional hatten Hedda mitgenommen. Abgeführt. Diskret durch die Tiefgarage, kein Hotelgast hatte es bemerkt. Obanos war noch geblieben. Ihre Aussagen hätten Zeit bis zum Nachmittag, oder auch morgen Vormittag, ihr Rückflug gehe erst um fünfzehn Uhr, wenn er recht orientiert sei. Señora Ruíz komme heute Abend nach Santiago zurück. Er empfehle, vor einem Besuch anzurufen.
Nina hatte ihn erschreckt angestarrt. «Und Sie?», fragte sie. «Werden Sie nicht mit ihr sprechen?»
«Denken Sie, nachdem wir jetzt wissen, wer Benedikt in die Schlucht gestoßen hat, der Absturz von Ninas Bruder sei doch nur ein Unfall?», fragte Leo.
«Das dürfen Sie nicht», rief Nina aufgeregt. «Sie müssen Camilla und den Jungen beschützen. Dieser Mann, der im hostal nach ihnen gefragt hat — er hat doch ihr Foto gestohlen. Das bedeutet doch etwas. Und Dietrich kannte sich in seinen Bergen aus, er wusste genau, wo er gehen konnte und wo nicht. Er war tausendmal dort gewesen, auch in der Nacht. Gerade in der Nacht. Mira hat gesagt, dass er das oft und besonders gerne getan hat. Wegen der Sterne. Er hat die Sterne geliebt, schon immer. Er hat sie mir gezeigt und erklärt, als ich ein Kind war. Rudolf wusste, wo Dietrich war, ich bin ganz sicher.»
Obanos legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter, ganz leicht, aber es wirkte. Sie sah ihn nur noch flehend an.
«Ich verstehe Ihre Sorge», sagte er, «tatsächlich neige ich stärker zu der Variante tragischer Unfall. Aber ich verspreche Ihnen, wir, das heißt meine Kollegen hier in Santiago und in Kastilien-León, werden uns der Sache annehmen.»
«Der Sache? Was heißt das? Es sind Menschen. Das Kind meines Bruders und seine Mutter. Sie brauchen Schutz. Und ich verlange, dass Dietrichs Tod noch einmal untersucht wird, genau und gründlich. Ich werde einen Rechtsanwalt beauftragen.»
«Vielleicht warten Sie damit noch ein paar Tage», unterbrach Obanos sanft. «Señora Ruíz und ihr Sohn werden erst heute Abend zurückerwartet. Dann sehen wir weiter.»
Das hatte Nina beruhigt. Halbwegs.
«Vertraust du dem Inspektor?», fragte sie jetzt.
Leo lächelte. «Das hast du schon gefragt, als er vorhin gerade zur Tür hinaus war. Ja, irgendwie schon. Überleg doch mal. Er hatte Anweisung, Benedikts Unfallakte zu schließen. Als er dann auch von Dietrichs Unfall hörte, hat er Urlaub genommen und sich auf den Weg nach Foncebadón gemacht. Er hat seine Nase in alles gesteckt, was ihm auch nur halbwegs verdächtig erschien. Und zwar schon, bevor er von der Geschichte deiner Familie wusste. Ich finde das ziemlich zäh. Lass uns einfach bis heute Abend warten. Dann kannst du Camilla und deinen neuen Neffen kennenlernen.»
In einer Sackgasse nicht weit von der
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