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Tod Auf Dem Jakobsweg

Tod Auf Dem Jakobsweg

Titel: Tod Auf Dem Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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weniger, doch heute lag eindeutig ein Mehr-Tag hinter ihr. Der Heimweg entlang der Außenalster hatte ihren Kopf geklärt und erfrischt, ihre Füße jedoch hatten energisch nach bequemerem Schuhwerk verlangt. Manchmal beneidete sie die Amerikanerinnen, die trugen an strapaziösen Tagen selbst zum elegantesten Kostüm Turnschuhe. Der Gedanke, was der Direktor und die Gäste zu einem solchen Outfit sagen würden, ließ sie lächeln. Alle hielten sie für perfekt, so sollte es auch sein und bleiben.
    Die Spielregeln für die Arbeit der Empfangschefin eines hanseatischen Vier-Sterne-Hotels waren klar umrissen, bis zur stets akkuraten Frisur und dezenten Farbe des Lippenstifts. Sie fand das angenehm. Perfekt zu sein war einfacher, als ständig auf dem schmalen Grat zwischen Richtig und Falsch zu balancieren. Nur in diesen seltenen aufmüpfigen Momenten, wenn ein Gast besonders schwierig, eine Mitarbeiterin besonders ungeschickt war, wenn überflüssige Pannen im Hotelbetrieb den Tag nicht enden ließen, ertappte sie sich bei subversiven Phantasien. Die schönste war, durch die große gläserne Drehtür hinauszumarschieren, einfach so, ohne irgend jemandem Bescheid zu geben, ins Auto zu steigen und loszufahren. Ohne Gepäck, ohne Verantwortung, ohne Pflicht. Bis nach Sizilien. Und dann? Keinesfalls umkehren. Die Welt war groß und weit.
    Natürlich würde sie so etwas niemals tun. Sie mochte ihre Arbeit, und Träume waren dazu da, Träume zu bleiben. Sie ging durch den lichten Wohnraum, zog die Tür zu der kleinen Dachterrasse auf und trat in die milde Abendluft hinaus. Aus den gepflegten Anlagen des Innenhofes duftete es nach blühendem Mai, in der Krone der Kastanie, deren breitausladende Äste bis an ihre Terrasse reichten schmetterte eine Amsel ihr Lied. An jedem Morgen und an jedem Abend stand sie hier und fühlte so etwas wie Glück. Da hatte es doch einen Traum gegeben, der keiner geblieben war. Seit Benedikt ausgezogen war, hatte sie allein in der Wohnung gelebt, in der er aufgewachsen war. Bis zu dem Tag, an dem sie das Vertraute mit fremden Augen ansah, den Lärm von der Straße hörte, die Dunkelheit der Räume spürte und sich fragte, warum sie blieb.
    Es war ihr schwergefallen, sein Angebot anzunehmen, ihr eigenes Geld hatte nicht gereicht, um diese Wohnung zu kaufen. , hatte er schließlich lachend gesagt. Das war nun ein gutes Jahr her, und immer noch, wenn sie die Terrassentür öffnete, hatte sie das Gefühl von Unwirklichkeit. Als sei sie nur zu Besuch und werde bald in die düstere Wohnung an der vierspurigen Straße zurückkehren Aber es wurde besser, jeden Tag lernte sie ein bisschen mehr, ihr neues Domizil einfach zu genießen. Wenn sie sich über die Brüstung beugte konnte sie zwischen der Kastanie und einer der Rotbuchen sogar die Alster sehen, silbergrau im Winter, tiefblau im Sommer, und bei Sturm mit weißen Spitzen auf kleinen, mutwillig hüpfenden Wellen. Aber das tat sie selten, sie fürchtete sich vor Geländern, hinter denen es vier Stockwerke in die Tiefe ging.
    Ruth Siemsen schob eine CD ein, tauschte das strenge dunkelblaue Kostüm gegen Leinenhose und Pulli, und während sie leise eine vertraute Melodie mitsummte, füllte sie Eiswürfel und Martini Bianco in ihr Lieblingsglas. Benedikt sah ihr zu, wie immer, wenn sie in der Küche war. Er lachte sie aus ihrem Lieblingsfoto heraus an, mit dunklen Locken, eine Zahnlücke im breitgrinsenden Kindermund. Von den Locken war nicht viel geblieben, sein Lachen jedoch, die Unternehmungslust in seinen Augen erinnerten noch heute an den Sechsjährigen, der er einmal gewesen war. Der personifizierte Übermut.
    «Ich wünsche dir schöne Tage auf dem Jakobsweg mein Sohn», sagte sie und pustete dem Bild eine Kusshand zu. Sie ließ eine Zitronenscheibe in den Martini gleiten und ging, die Zeitung unter dem Arm, zur Terrasse zurück.
    «Sei still», knurrte sie das Telefon an, das in diesem Moment zu klingeln begann. «Selbst wenn das Hotel brennt oder Richard Gere eine Suite bestellt hat — ich habe jetzt Feierabend.» Niemals würde sie es schaffen, das Telefon einfach klingeln zu lassen. Das Hotel könnte tatsächlich brennen.
    «Entschuldigen Sie die Störung, Frau Siemsen», sagte eine weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung. «Mein Name ist Bredersen,

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