Tod Auf Dem Jakobsweg
war schon lange ihre beste Methode, krumme Gedanken geradezurücken, aus den Irrgärten ihrer Phantasie zurück in die Realität zu finden. Gang durch eine fremde Stadt, sei sie noch so reich an Sehenswürdigkeiten und Ablenkungen konnte das nicht bewirken. Dabei zogen sich die Knoten nur fester.
Sosehr sie sich dagegen wehrte, es erschien ihr immer seltsamer, dass Benedikt diesen vermaledeiten Hang hinuntergestürzt war. Einfach so.
Einfach so?
Er war ein erfahrener Wanderer, er kannte sich mit der Kletterei in wirklich unwegsamem Gelände aus, und bei aller zu vermutenden Abenteuerlust und allem Vergnügen am Thrill des Balancierens am Abgrund war er ihr keineswegs leichtfertig erschienen. Andererseits kannte sie ihn nur sehr flüchtig, längst nicht gut genug, um ihm das Prädikat zu verleihen. Das rasche Urteil entsprach einzig ihrem Gefühl. Darauf konnte sie sich gewöhnlich verlassen — von einigen schweren Irrtümern abgesehen. Zum Beispiel dem ganz großen, als sie in den grünen Augen eines auch sonst ziemlich berückenden Exemplars von Mann Sensibilität, Treue und Liebe gesehen hatte. Aber das war lange her, inzwischen war sie reifer und klüger. Ein bisschen. hoffte sie jedenfalls. Sie empfand Benedikt als attraktiv und anziehend, keineswegs als berückend. Da hatte nichts ihren Blick getrübt und ihre Gefühle verwirrt. Selbst wenn sie sich in ihrem Urteil geirrt hatte, jener Abhang im Wolkendunst hatte gewiss keine Verlockung wie ein schmaler Grat im Hochgebirge oder der Rand eines Canyons bedeutet.
Wer hatte überhaupt gesagt, er liebe gefahrvolles Balancieren am Abgrund? Eva hatte gesagt, sie habe es von Nina erfahren. Wann mochten die beiden sich unterhalten haben? War Nina nicht schon früher als alle anderen in ihr Zimmer gegangen? Leo erinnerte sich nicht genau. Am Morgen vor dem Frühstück hatte sie Benedikts spröde Freundin von einem Spaziergang zurückkommen sehen. Mit Hedda. Eva hatte Leo dort draußen nicht gesehen. Und hatte sie nicht mit der Antwort gezögert, als Felix fragte, woher sie das wisse?
Leo schüttelte unwillig den Kopf und lehnte sich in das Polster zurück. Wieder einmal suchte sie in einer banalen Geschichte ein Geheimnis. Es gab keines. Irgendwann zwischen dem ersten gemeinsamen Abendessen und Benedikts Sturz hatten sich Nina und Eva unterhalten. Wann, wie und wieso die verschlossene, arrogant wirkende Nina der ihr völlig fremden Eva Privates erzählt hatte — egal. Es ging sie nichts an.
Sie blickte zu Hedda auf der Nachbarbank hinüber. Die starrte missmutig in den feinen Regen hinaus, die Arme vor der Brust verschränkt Trotz der frühsommerlich leichten Bräune wirkte ihr Gesicht unter dem schwarzen Haar immer noch blass und angespannt, was am Anfang einer Reise allerdings nichts Besonderes war. Wer begann den Urlaub schon erholt und entspannt?
Wieder stieg ein Gefühl in Leo auf. Hedda, sagte es ihr, sei eine im Grunde ihrer Seele sympathische Frau, die nur ein wenig muntere Gesellschaft und Zuneigung brauche, zumindest wohlwollende Beachtung. Dieses Gefühl beschloss sie, trotz eines Anflugs von schlechtem Gewissen, entschieden zu ignorieren. Sie machte Urlaub — zwei Wochen keine Geschichten fürs Tränenfach. Das hatte sie sich versprochen.
Zwar hatte Leo ein gründliches Studium absolviert, sie war sogar eine fleißige Studentin gewesen, stets neugierig auf Unbekanntes, als Journalistin war sie trotzdem anstatt im angestrebten Wissenschaftsressort im Tränenfach gelandet. Schicksale, zumeist schwere, waren zu ihrer Spezialität geworden, besonders solche mit halbwegs manierlichem Happy End. Das war gut die Auflage der Magazine, doch es war auch gut für Leos Seele. Zumindest eine Prise Zuversicht, ein Licht am Ende des Tunnels — das war es, was sie brauchte, um nach getaner Arbeit ruhig zu schlafen.
Nun gut, gegen ein bisschen wohlwollende Beachtung war nichts einzuwenden, die kostete wenig Mühe, und wenn es ihr diesmal gelang, ihre guten Vorsätze in die Tat umzusetzen, nämlich auch die Aktivität ihres ausgeprägten Neugier- Gens abzuschalten, würde es ein Leichtes sein, die nötige Distanz und die eigene Seelenruhe zu wahren. Für Lebensbeichten und Schicksalsklagen, die selbst fremde Menschen — warum auch immer — so gerne bei ihr abluden, gab es an einem Pilgerweg jede Menge Beichtstühle mit geduldig zuhörenden Männern in langen Kutten.
Es knackte in den Lautsprechern, und sie hörte die Stimme des Reiseleiters. «Da
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