Tod Auf Dem Jakobsweg
kannte Benedikt dort? Die Begegnung hatte nicht nach einer Verabredung in alter Freundschaft ausgesehen, und dass er schon früher in Bilbao gewesen war, hatte er nicht erwähnt. Oder doch? Wahrscheinlich hatte er Nina dort besucht.
Sie musste Felix fragen. Die beiden hatten am ersten Abend noch lange in der Hotelbar gesessen, sicher hatten sie sich ihr Leben erzählt. Oder auch nicht. Männer konnten stunden-, tagelang miteinander reden, ohne das Geringste an Persönlichem zu erwähnen. Überhaupt war das reine Spintisiererei, ein Phantom der dunklen Nacht. Sie würde sich nicht von Ennos lebhafter Phantasie und seiner Vorliebe für blutige Geschichten anstecken lassen.
Unwillig stöhnend setzte sie sich auf, stopfte sich das Kissen in den Rücken und starrte auf die pechschwarze Fensteröffnung. Schluss mit den wirren Gedanken, sie waren überflüssig wie ein Kropf. Vielleicht lag es an den Mysterien des alten Jakobsweges, die hielten nicht nur als weiße Rinder wiedergeborene Tempelritter und Gralssucher, satanische Hunde, wundertätige Madonnen und sonstige Heilige bereit, offenbar verliehen sie auch der Phantasie der Wanderer besonders kreative Schübe.
Dienstag / 3. Tag
Entgegen ihrer Erwartung hatte Leo nach der Grübelei wie ein Stein geschlafen, die Anstrengung des vergangenen Tages hatte endlich das Erschrecken und die Sorge um Benedikt besiegt. Sie erwachte frisch, nur die Muskeln ihrer Beine rächten sich. Sie waren so hart und steif, dass Leo das Gefühl hatte, auf Stelzen zu gehen. Als sie in den Frühstücksraum kam, waren alle schon da und saßen wieder auf den gleichen Plätzen wie gestern. Der leere Stuhl neben ihrem, auf dem Benedikt gesessen hatte, bereitete ihr Unbehagen. Den Stuhl am Kopf des langen Tisches, gestern Ninas Platz, hatte jemand fortgeräumt. So gedämpft die Stimmung am vergangenen Abend gewesen war, so munter war sie jetzt. Ein bisschen zu munter.
Sie fühlte Jakobs Blick und schickte ihm ein flüchtiges Lächeln über den Tisch.
«Gut geschlafen?», fragte er.
Leo nickte. «Erstaunlich gut. Nicht der kleinste Albtraum.»
«Ich auch», erklärte Hedda, die ihr gegenübersaß. «Wirklich erstaunlich, wenn man bedenkt, was passiert ist, oder?»
«Gar nicht», befand Enno. Leo wartete darauf dass er seinen Zeigefinger hob, doch er enttäuschte sie. «So ist die Natur. Die fordert ihr Recht. Gehen und frische Luft — das gibt gesunden Schlaf.»
Hedda schluckte eine Antwort hinunter, beugte den Kopf und strich dick Marmelade auf ihre Weißbrotscheibe. Sie war blass, unter ihren Augen lagen graue Schatten, und Leo fragte sich, wie sie an einem Morgen aussehen mochte, nachdem sie schlecht geschlafen hatte.
«Das ist nämlich so, Leo...», fuhr Enno unbeirrt fort, und weil sie so früh am Tag noch nicht über genug Energie für offenen Widerstand verfügte, ließ sie seinen Vortrag über die Rechte der Natur im Allgemeinen und in den Bergen im Besonderen über sich ergehen. Zum Glück blieben nur wenige Minuten, bis Jakob von einem Telefonat mit dem Hospital in Burgos zurückkam. Benedikts Zustand sei unverändert, gab er bekannt, der Arzt werte das als positiv. Nur eines sei neu: Frau Siemsen, Benedikts Mutter, sei in Burgos eingetroffen. Mütter, sagte er knapp, seien eben immer besonders besorgt, das stehe ihnen auch zu. Und nun sei es höchste Zeit aufzubrechen, Ignacio warte schon mit dem Bus.
Als der Bus die uralten Stadtmauern Pamplonas passierte, begann es wieder zu regnen.
«Prima», murmelte Hedda auf der anderen Seite des Mittelgangs und fuhr mit dem Ärmel über die beschlagene Scheibe des Busfensters, «so habe ich mir das vorgestellt. Meine Wanderstiefel sind noch von gestern klamm. Sind deine getrocknet?»
«Völlig. Meine Stiefel sind aus dickem Leder und gründlich gewachst, sie sind schwerer als deine, aber sie halten trocken», erklärte Leo, was Heddas Stimmung nicht hob. Sie hockte auf der Nachbarbank, starrte grimmig auf ihre Füße und murmelte etwas, das wie «Scheißwetter» klang.
Leo hatte keine Lust, über das Wetter zu klagen. Sie hatte überhaupt keine Lust zu reden. Oder eine Stadt zu besichtigen. Auch an diesem Morgen wäre sie trotz der steifen schmerzenden Muskeln lieber gleich gewandert, möglichst immer ein Stück entfernt von den anderen, ohne in ein Gespräch verwickelt zu werden. In ihrem Kopf flackerten die Bilder von gestern auf, die daraus entstehenden Gedanken gefielen ihr nicht. Gehen, Schritt vor Schritt, immer weiter,
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