Tod Auf Dem Jakobsweg
von . Sie sind doch eine Verwandte von Benedikt Siemsen? Er hat Sie auf seiner Anmeldung als Kontaktperson angegeben. Ach, er ist Ihr Sohn, gut, ja. Es tut mir leid, Frau Siemsen, aber es ist etwas passiert. Herr Siemsen hatte einen kleinen Unfall, nichts wirklich Schlimmes, aber er liegt in Burgos in der Klinik. Wir möchten Ihnen anbieten hinzufliegen, das organisieren wir gerne für Sie. Am besten nehmen Sie heute die letzte Maschine nach Frankfurt, da ist noch was frei, allerdings müssten Sie sich ein bisschen beeilen. Dann können Sie dort übernachten und morgen die Frühmaschine nach Bilbao nehmen. Eine Kollegin reserviert das gerade für Sie. Hallo? Frau Siemsen? Hören Sie mich noch?»
Das Martini-Glas zerbrach klirrend auf dem Parkett.
Leo lauschte in die Nacht. Es war so schrecklich still. Zweimal hatte sie die Geräusche eines vorbeifahrenden Autos gehört, einmal aus dem Bett schlüpfen und aus dem Fenster sehen lassen. Ignacio holte etwas aus dem Bus, eine Zeitung oder Mappe, ging über den von einer Laterne notdürftig beleuchteten Hof zurück und verschwand durch die Hintertür des Hotels. Einmal hörte sie auch leise Stimmen auf der Treppe, eine Tür wurde ins Schloss gezogen, dann war es wieder still. Selbst aus dem Speisesaal und der Bar, wo sicher noch geredet und getrunken wurde, klang kein Laut herauf.
Die Nacht war frisch, der Himmel bedeckt — ein heller Schimmer hoch über der Wiese und dem Flüsschen verriet, dass der Mond fast voll war. Es roch nach gemähtem Gras und Kühen, ein Sommergeruch, sie ließ das Fenster weit geöffnet.
Dummerweise begriff ihr Kopf nicht, wie müde sie war. Immer wenn sie glaubte, endlich einzuschlafen, holte ein Bild oder ein Wort sie zurück. Zuletzt Bilbao.
Dort hatten sie gleich nach der Landung den ersten Programmpunkt der Reise absolviert, den Besuch des Guggenheim-Museums. Leo war davon zunächst nicht begeistert gewesen. Sie wollte wandern, ab und zu ein Kloster oder eine Kathedrale besichtigen, aber gleich vom Flugzeug in ein Museum für moderne Kunst?
Dann war sie doch begeistert gewesen. Das Gebäude auf der weiten Plaza am Ufer des Río Nervión war atemberaubend. Hier traf das Wort einmal zu. Die Sonne hatte es schimmern und gleißen lassen wie eine verwegen verschachtelte gleichwohl elegant fließende Erscheinung aus einer Traumwelt, am stärksten — stärker noch als die dargebotene Kunst — hatte sie jedoch die Wirkung im Innern beeindruckt. Was von außen fensterlos wirkte, war lichtdurchflutet, animierte zum Schlendern und Staunen, bot im Labyrinth weitläufiger haushoher Räume und Säle immer wieder überraschende Blicke, Winkel und Lichteffekte. Leo verstand nichts von moderner Kunst, sie interessierte sie nicht besonders — doch hier hatte sie sich verlockt, verführt und angezogen gefühlt, war neugierig geworden auf Unbekanntes.
Nun tauchte ein ganz anderes Bild aus ihrem Gedächtnis auf, eine Szene, die mit Kunst absolut nichts zu tun hatte. Nina war im ersten Raum hinter der Eingangshalle durch eine Tür mit der Aufschrift privado verschwunden. Benedikt hatte ihr nachgeblickt, nicht gerade grimmig, aber — verstimmt? Ja, das war das richtige Wort. Dann war ein Mann eilig näher gekommen, hatte ihm auf die Schulter getippt und war, leise auf ihn einredend, mit ihm fortgegangen. Benedikt hatte widerstrebend gewirkt, doch vielleicht glaubte sie das jetzt nur. Nebel mochte sich aufgelöst haben, die Gespenster ließen sich nicht so leicht vertreiben.
Leo hatte der kleinen Szene keine Bedeutung beigemessen oder auch nur Neugier gespürt. Jetzt, nach diesem Unfall und im nächtlichen Dunkel, weckte der Mann, dem Benedikt gefolgt war, doch ihre Neugier. Und ihr Misstrauen. Wie hatte er ausgesehen? Mittelgroß, schlank, dunkles Haar, grauer Anzug, ziemlich elegant? Bei aller Vergesslichkeit für Namen konnte sie sich bei Gesichtern und Bildern auf ihr Gedächtnis verlassen. Diesmal nicht, dazu hatte sie ihn zu wenig beachtet. Sie schloss die Augen und versuchte, sich die Begegnung auf ihre innere Leinwand zu holen. Benedikt und der Mann im grauen Anzug im Entree des Museums. Sie erinnerte sich nur, er hatte eine getönte Brille getragen. Das machte jedes flüchtig betrachtete Gesicht beliebig.
Nina studierte Romanistik und Kunstgeschichte — oder waren es Museumswissenschaften? Sie hatte im letzten Winter im Guggenheim-Museum hospitiert und nun sicher frühere Kollegen besucht. Aber wen
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