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Tod Auf Dem Jakobsweg

Tod Auf Dem Jakobsweg

Titel: Tod Auf Dem Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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zu pilgern, beeilten sich doch alle. Sogar Helene und Sven, deren Füße schon besonders reich mit Pflastern bestückt waren.
    «Wo ist eigentlich Ignacio?», fragte Enno Leo leise, während Jakob an der Kasse des Klosters die Eintrittskarten kaufte.
    «Keine Ahnung», sie drehte weiter an dem Postkartenständer, «sicher hält er im Bus Siesta. Er macht diese Tour mehrmals im Jahr, er wird wenig Lust haben, mit jeder Gruppe immer wieder dieselben Kirchen und Klöster abzuklappern.»
    «Klar.» Enno nickte. «Aber wenn er nicht gerade hinter dem Lenkrad sitzt, lässt er sich auch sonst kaum blicken. Selbst am Abend. Gestern Nacht, als ich noch mal aus dem Fenster nach dem Wetter sah, habe ich ihn zurückkommen sehen. Mitten in der Nacht. Das gibt doch zu denken. Oder etwa nicht? Wen mag er da getroffen haben? Der Mann ist in San Sebastian zu Hause, das ist eine Baskenhochburg, und die ETA...»
    «Vergiss doch endlich die Basken und die ETA, Enno. Die interessieren sich nicht für uns, und sie haben Benedikt auch nicht den Abhang hinuntergestoßen. Ignacio wird noch einen kleinen Nachtspaziergang gemacht haben, oder er hat in Burguete eine heimliche Zweitfamilie. Vertraue deine Befürchtungen der Madonna in der Grotte an. Vielleicht verhilft sie dir zu Klarheit.»
    Kaum ausgesprochen, tat Leo ihre Ruppigkeit leid. Enno war zurückgezuckt, als habe sie ihm einen Schlag versetzt. Er fing sich gleich wieder. «Lass die Madonna aus dem Spiel», sagte er leichthin, «sie wird schon mehr als genug missbraucht.»
    Damit schlenderte er davon. Leo sah ihm noch nach, als er schon im Kreuzgang verschwunden war. Und überlegte, wie der wahre Enno sein mochte, der Mann hinter dieser Maske aus launiger Schwätzerei und Biederkeit.
     
    Durch die enge Straße tief unter dem Fenster flanierten wie alle Tage um diese Stunde die Menschen von Burgos und, stets ein wenig eiliger, die Touristen. Dazwischen gingen auch ein paar Wanderer oder Pilger auf der Suche nach einer der Herbergen der Stadt, sie waren an schweren staubigen Stiefeln und hochbepackten Rucksäcken leicht zu erkennen. Die Stimmen hallten zwischen den Mauern der alten Häuser, ein heiterer Chor, der nichts mehr von der Geschäftigkeit und Eile des Nachmittags hatte. Eine spanische Stadt am frühen Abend, geprägt von ihrer mehr als zweitausend Jahre alten Geschichte, voller Kunst, voller Leben.
    An anderen Tagen hätte Nina den Blick aus dem Fenster, die Geräusche und Gerüche in der sanften Abendluft genossen. Diese ganz eigene südliche Atmosphäre. Die gab ihr sonst das Gefühl, in einer unbeschwerteren Welt zu leben. Oder in einem Roman. Die Vorstellung, eine Figur in einer erfundenen Geschichte zu sein, gefiel ihr, seit sie gelernt hatte, Bücher zu lesen. Damals hätte sie selbst mit Alice in ihrem unheimlich-bedrohlichen Wunderland brennend gerne getauscht. Alle Kinder wünschen sich in die Abenteuer ihrer Lieblingsbücher, ihr war diese Phantasie mit dem Erwachsenwerden nicht verlorengegangen. Das war eines ihrer Geheimnisse, die jene Nina, die sich hinter der Fassade von Vernunft und Strenge verbarg, niemandem preisgab. Selbst Benedikt hatte sie nicht davon erzählt, obwohl er es verstehen würde. Wahrscheinlich würde er das. Sie hoffte es.
    , dachte sie,
    Sie spürte ihre Lippen zittern und presste sie fest aufeinander. Es gab dieses . Es musste es geben. Wie sollte sie weiterleben, wenn er nicht mehr aufwachte? Wie?
    Mit noch mehr Schuld? Das würde sie nicht ertragen.
    Sein weißes Gesicht mit den blutigen Schrammen, die tiefen Schatten unter den Augen, die blassen Lippen, das Krankenzimmer mit den Geräten und ihren rhythmischen Geräuschen, die Nonne mit der sanften Stimme und dem prüfenden Blick — sie sah alles vor sich, auch mit geöffneten Augen. Dass heute Benedikts Mutter an seinem Bett gesessen hatte, hatte sie zutiefst erschreckt. Wenn man sie benachrichtigt und nach Burgos gebracht hatte, musste es noch schlimmer stehen, als der Arzt ihr gesagt hatte. Was hatte er überhaupt gesagt? Alles werde gut, man müsse nur Geduld haben, ein gesunder und kräftiger junger Mann wie Señor Siemsen bewältige einen solchen Unfall. Beruhigende Worte, denen seine besorgt blickenden Augen widersprochen hatten.
    Bevor Frau Siemsen sie bemerkte, hatte Nina sich umgedreht und war zurückgelaufen, durch die langen Gänge, durch gläserne Türen und die Treppen hinunter. Erst als sie vor dem Hospital stand, selbst

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