Tod Auf Dem Jakobsweg
Gottesdienst riefen oder nur an die nahende Nacht gemahnten, für sie war es ein Signal. Sie wusste nicht, was sie morgen tun würde. Oder übermorgen. An den Tagen danach. Aber sie wusste, was sie jetzt tun musste.
Hastig, als sei keine Minute mehr zu verschwenden, stopfte sie das wenige, das sie ausgepackt hatte, in ihre Reisetasche, löschte das Licht, trat hinaus in den Hotelflur und hängte das Schild an die Tür, das dem Stubenmädchen sagte, sie möge nicht stören.
Noch einmal holte sie tief Luft, sah den schattenreichen Gang hinunter und entschied sich für die Hintertreppe, die sie gestern fälschlich für die Haupttreppe gehalten hatte.
Sie führte durch den Eingang für Personal und Lieferanten in einen engen Hof, in dem sich auch die Mülltonnen und Stapel von Kisten leerer Flaschen befanden. Das Zimmer war mit der Reise bezahlt, und ganz gleich, wer nach ihr fragte, in der Rezeption würde man nicht wissen, dass sie fort war. Nicht vor morgen, mit Glück erst am späten Nachmittag, wenn die Wandergruppe eintraf. Dann würde Jakob nach ihr fragen. Gleich, bevor er sich auf den Weg zum hospital machte.
Die Dämmerung versickerte rascher in der Dunkelheit als zu Hause im Norden, die Nacht war schon schwarz. Der von einer flackernden Laterne spärlich beleuchtete Hof lag voller Schatten, sie hörte gedämpfte Stimmen von den umliegenden Straßen, die Küchenlüftung schnarrte und schickte dampfend südliche Essensgerüche in die erkaltende Nacht. Für einen Moment ließ Panik ihren Herzschlag stolpern. Wenn sie sich geirrt hatte, wenn dort draußen doch jemand auf sie wartete? Wenn... Nun war nicht die Zeit für ein Wenn. Ihr Plan mochte vage sein, doch sie hatte keinen besseren. Und sie würde nicht einfach aufgeben, jetzt erst recht nicht. Dazu war der Preis schon zu hoch.
Sie hatte Glück. Das Tor zu der kaum mehr als schulterbreiten Hintergasse war verschlossen, doch der Schlüssel steckte und drehte sich leise kratzend in dem alten Schloss. Noch einmal lauschte sie, da waren keine Schritte, nichts, niemand bewegte sich. Nicht einmal eine Katze oder Ratte. So schlüpfte Nina durch das Tor und tauchte ein in die Nacht.
Kapitel 4
Mittwoch / 4. Tag
Joaquín Obanos öffnete das Fenster seines Büros, zog den Pullover über den Kopf und schleuderte ihn auf den Stuhl neben seinem Schreibtisch. Schlecht gezielt. Der Pullover rutschte in den Papierkorb. Dort würde er ihn vergessen, bis ihn die Putzfrau herauszog, frühestens in drei Tagen, und anklagend in die Höhe hielt:. Niemand im Kommissariat, so glaubte sie, warf so leichtfertig noch gut Verwendbares weg wie dieser Inspektor.
Am Morgen hatte das Thermometer acht Grad angezeigt. Die Sonne strengte sich an, und obwohl gegen Mittag immer noch der Wind von der Sierra durch die Stadt fegte, behauptete die elektronische Anzeige auf der Reklamesäule gegenüber dem Kommissariat, es seien nun 26 Grad. Die Menschen auf den Straßen von Burgos zogen ihre Jacken aus und verlangsamten die Schritte zum Schlendern.
Obanos ignorierte den Straßenlärm. Er beschwerte Papiere und Akten mit Büchern, Locher und Tacker, damit der Wind nicht beim ersten Türöffnen die Ordnung auf seinem Schreibtisch verwüstete, und stemmte die Fäuste in die Taille. So stand er gerne, wenn er nachdachte, die Fäuste in der Taille und ein bisschen breitbeinig, die Augen fest auf das grünstichige Werbeposter für die Provinz Burgos gerichtet. Der weite Blick über die Ruine des Castillo von Poza de la Sal und die dahinterliegende Bergkette gab ihm Ruhe und Konzentration. Selbst wenn es wie in diesem Moment um eine so private Frage wie das richtige Geburtstagsgeschenk für seinen Sohn ging.
«Verdammt, Joaquín!» Subinspektor Prisa, ein hagerer Mann mit kurzgeschorenem tiefschwarzem Haar, dem selbst bei 36 Grad ohne Schatten niemals einfiel zu schlendern, fegte in das kleine Büro. Er fischte den Telefonhörer aus der obersten Schreibtischschublade und knallte ihn auf den Apparat. «Wann hörst du endlich auf, den Hörer neben die Kiste zu legen, sobald du ein bisschen nachdenken willst? Es könnte schließlich mal was Wichtiges sein, ein Mord im Rathaus zum Beispiel.»
Obanos grinste. «Der Hörer, verehrter Esteban, liegt extra dort, damit du ab und zu einen Grund zum Rennen hast. Und das Rathaus ist mir piepegal. Besonders an einem so schönen Tag wie heute.»
Er grinste noch breiter. Die Sache mit dem Rathaus war ein alter Witz zwischen ihnen, seit
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