Tod Auf Dem Jakobsweg
Rollschrank.
«Man kann das unsere Chronik nennen», erklärte Mira. «Auf diesen Bildern finden sich alle, die im Lauf der Jahre hier mit uns gelebt haben. Oder es versucht haben. Von den Ersten sind nur Julián und ich übrig geblieben und haben durchgehalten. Na ja, das ist das falsche Wort. Wir sind glücklich hier und werden nie weggehen.» Der traurige Klang ihrer Stimme passte nicht zum Inhalt ihrer Worte, sie wischte unwirsch eine Träne von der Wange. «Es tut mir leid, ich sollte meine Gäste nicht mit Privatem belästigen. Unser bester Freund hat uns vor sehr kurzer Zeit verlassen, sein Bild zu sehen ist schwer. Ich kann es nicht begreifen, es ist, als sei er nur in die Berge gegangen und komme gleich zurück.»
Sie nahm einen der Rahmen von der Wand, strich zärtlich über die lachenden Gesichter hinter dem Glas und reichte ihn Leo. «Das ist eines der frühen Bilder, damals kam der Regen noch durchs Dach. Er ist dieser dünne Kerl ganz links. Als er damals zu uns kam, war er ein ziemliches Wrack, hier ist er an Leib und Seele gesundet. Er hat immer gesagt, das sei der Magie des camino zu danken. Ob es daran lag, an unserem einfachen Leben oder an seinem Willen und seiner inneren Stärke, ist letztlich egal. Er war glücklich hier, wie mein Mann und ich. Nicht sofort natürlich, für ihn war es zu Anfang besonders hart. Julián hat sich seiner angenommen, wie eine Mischung aus Bruder, Vater und Priester. Anders als ich hat er ihn sofort gemocht, keine Ahnung warum. Julián sieht eben mehr als andere Menschen. Hier ist ein neueres Bild von unserem Freund, es ist im letzten Winter aufgenommen worden.»
Leo reichte das erste Foto an Nina weiter. Sie stand neben ihr, starrte auf die Reihen der Bilder und nahm den Rahmen erst, als Leo ihn ihr in die Hand drückte.
«Ist dir nicht gut, Nina?»
Nina antwortete nicht, sie schüttelte nur kurz den Kopf und beugte sich über das gerahmte Foto in ihren Händen.
Leo nahm das nächste Bild von Mira. Es zeigte einen Mann in mittleren Jahren mit dunkelblondem, von Sonne und Licht gebleichtem, schulterlangem Haar und wettergegerbtem Gesicht. Es strahlte die gelassene Zufriedenheit aus, die nur Menschen empfinden, die den richtigen Platz im Leben gefunden und Frieden mit sich und ihrer Welt geschlossen haben.
«Gib her», sagte Nina rauh und nahm Leo das Bild aus den Händen. «Wie heißt er?»
«Dietrich», sagte Mira, wieder fuhren ihre Handrücken über ihre Wangen.
«Wo ist er jetzt?», fragte Nina und erklärte, als sie Leos irritierten Blick spürte: «Es ist nur», sie räusperte sich, «es ist nur, weil er mir bekannt vorkommt.»
«Das wäre ein großer Zufall, aber es kann schon sein.» Mira lächelte versonnen. «Er kam auch aus Deutschland, aus Hamburg. Ich weiß nicht viel von seiner Vergangenheit, er hat in all den Jahren wenig davon erzählt. Bevor er hierherfand, hatte er sich schon einige Zeit an der Küste herumgetrieben. Zwei oder drei Jahre, glaube ich. Zu Hause hatte er es nicht mehr ausgehalten, wie die meisten von uns. Ich hoffe, dass du ihn nicht kanntest oder er ein Freund von dir war, dazu bist du allerdings zu jung. Er war mindestens doppelt so alt wie du. Er ist verunglückt, vor zwei Wochen erst. Dietrich», schluchzte sie auf, «ist tot.»
Wie oft war er eines Abends noch einmal hinausgegangen, um vor dem Schlafengehen mit sich, den Bergen und den Sternen allein zu sein. Niemand hatte sich deswegen gesorgt, sie alle kannten hier jeden Weg und Steg, und die Wege waren sicher. Sicherer als jede dunkle Straße in den Städten.
In der Woche zuvor hatte es stark geregnet, nur das konnte der Grund sein, warum er gestürzt und einen Abhang hinuntergefallen war. An der Absturzstelle war Erde abgebrochen, ein ganzes Stück. Vielleicht war er doch unvorsichtig gewesen, obwohl Mira sich das nicht vorstellen konnte.
Sie würde diese Nacht nie vergessen. Alle waren zu Bett gegangen, irgendwann, es war schon lange nach Mitternacht, hatte Camilla sie geweckt. Dietrich sei nicht zurückgekommen, so lange bleibe er sonst nie aus, sie mache sich Sorgen. Sie hatten nicht gezögert, sondern die Sturmlaternen angezündet und sich auf die Suche gemacht. Sie hatten gerufen, gesucht, waren den Weg abgegangen, den er gewöhnlich einschlug, andere Pfade, schließlich war Julián nach Foncebadón aufgebrochen, um Hilfe zu holen. Der Morgen graute schon, als er mit vier Männern zurückkehrte, einer hatte seinen Jagdhund mitgebracht. Sie fanden ihn bald,
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