Tod Auf Dem Jakobsweg
mit der Schuhspitze Streifen in den harten Sand. Leo ließ ihr Zeit.
Ein schwarzer Schatten glitt durch das Mondlicht, ein Uhu vielleicht, Nina hob den Kopf und sah ihm nach.
«Er war mein Bruder», sagte sie endlich, «genau gesagt mein Halbbruder aus der ersten Ehe meines Vaters. Als er verschwand, war ich ein Kind, sieben oder acht Jahre alt, ich weiß es nicht mehr genau. Ich fand ihn wundervoll, für mich war er ein großer Spaßmacher, ich habe ihn sehr geliebt. Damals. Und nicht verstanden, dass er plötzlich fort war. Einfach weg. Er hat nicht bei uns gelebt, aber er kam ab und an zu Besuch. Das war für mich immer ein Fest, manchmal hat er mich nachts mit auf den Bootssteg genommen und mir die Sterne gezeigt. Das war natürlich streng verboten, das kostbare Kind hätte ins Wasser fallen oder sich einen Schnupfen holen können. Wir ließen die Beine baumeln, sahen in den Himmel und suchten die Sternbilder. Er hat mir dazu abenteuerliche Geschichten erzählt; dass es sich um die griechische Mythologie handelte, habe ich erst viel später auf dem Gymnasium begriffen. Ich habe keine anderen Geschwister, er war für mich mein Bruder, obwohl er alt genug war, mein Vater zu sein. Der hat nie mit mir gespielt oder sich mit mir wirklich unterhalten. Er war streng und hat immer gearbeitet. Oft sogar zu Hause, dann war sein Arbeitszimmer tabu. Ein kleines Mädchen begreift nicht, dass solche Männer trotzdem Gefühle haben, viele Jahre hatte ich Angst vor ihm. Lustig, nicht? Immer die alte Leier.»
«Ja, aber manchen kleinen Mädchen wird es auch sehr schwergemacht, das zu spüren. Wusstest du, dass er hier lebt? Dein Bruder?»
Ninas Augen suchten den Himmel ab. «Der Große Wagen», sagte sie und zeigte hinauf über die Felsen, «das einzige Sternbild, das ich noch erkenne. Ob ich es wusste? Mehr oder weniger. Ich habe erst vor einem halben Jahr erfahren, dass er überhaupt noch lebt. Ich glaube, meine Mutter wusste, wo er war. Sie hat ihn auch gemocht, da bin ich sicher, aber sie hat schon damals nie gewagt, für ihn Partei zu ergreifen. Er war ja nicht ihr Sohn. Und mein Vater? Unser Vater. Nein, er hat es ganz sicher nicht gewusst. Dietrich war das schwarze Schaf und die Enttäuschung seines Lebens. Zum Eklat kam es, als er den Namen seiner Mutter annahm. Der einzige Sohn legt seinen Namen ab — das war für unseren Vater wie ein Schlag ins Gesicht. Heute denke ich, genau das sollte es sein. Ich habe das alles erst später erfahren, als ich erwachsen war. Genau genommen vor ziemlich kurzer Zeit. In unserer Familie wurde über ihn nämlich nie gesprochen, und ich hatte früh gelernt, welche Fragen nicht opportun waren. Auch das war die alte Leier: ein strenger ernster Vater mit unverrückbaren Vorstellungen von der Zukunft seines einzigen Sohnes, auf der anderen Seite ein lebenslustiger Sohn, zu viele Partys und Alkohol, wahrscheinlich auch Drogen, Koks, das weiß ich nicht genau, Spielschulden, ein hingeworfenes Studium, all dieser Kram. Und dann war er plötzlich verschwunden. Sicher gab es einen Anlass, vielleicht der Namenswechsel. Auch das weiß ich nicht. Noch nicht, ich werde es herausfinden.»
«Du sagtest, du hast mehr oder weniger gewusst, dass er hier lebt.»
«Ach ja. Entschuldige, in meinem Kopf herrscht nur Chaos. Die Stichworte waren Herberge und Foncebadón, allerdings waren diese Hinweise alt, er konnte längst woanders sein. Ich wollte es trotzdem versuchen, andere Anhaltspunkte hatte ich nicht. Ich habe herausgefunden, dass es im Ort keine Pilgerherberge gibt, aber eine Art hostal ganz in der Nähe.»
«Und dann hast du diese Reise gebucht? Warum, um Himmels willen, bist du nicht einfach direkt hierhergefahren?»
«Verrückt, nicht? Benedikt und ich wollten eine Wandertour machen, wir hatten schon halbwegs etwas anderes gebucht, da habe ich diese Tour entdeckt. Ein Pilgerweg, das schien mir wie ein Zeichen, dabei glaube ich gar nicht an solche Dinge.»
Sie schwieg, Leo wartete.
«Ich weiß jetzt, dass das falsch war», flüsterte sie schließlich. «Benedikt — mein Gott, ich fühle mich so schuldig. Aber glaube mir, ich habe nicht geahnt, dass es gefährlich sein würde. Nicht so gefährlich. Dass er das tun würde. Und jetzt muss ich weitermachen, gerade deshalb. Ich muss. Und ich will.» Sie rutschte vom Brunnenrand und bohrte beide Fäuste in die Taschen ihrer Windjacke. Ihr Gesicht lag im Schatten, aber sie stand in der Dunkelheit wie ein Tier vor dem Sprung.
«Auf dem Weg
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