Tod auf der Donau
konnte man lediglich noch Namen entziffern.
Die Ehrenplätze in der Mitte des Friedhofs gehörten den berühmten Kapitänen und Schiffsmeistern. Eugenius Magnussen, leitender Ingenieur. Giovanni Matteucci, Navigationsdirektor. Abraham Farrar, Hafenleiter in Tulcea. Giorgios Kontoguris, ein berüchtigter Donaupirat, dem sie die Aufschrift in den Grabstein ritzten: »Ein überaus guter Bürger«, hinzu kam ein Totenkopf mit gekreuzten Gebeinen.
In einem Ehrengrab ruhte die Prinzessin Ekaterina Moruzi, Herzogin von Moldawien, die einst mit ihrem Liebhaber hierhergereist(von der Familie aus eben diesem Grund enterbt) und im Fluss ertrunken war. Der trauernde Vater hatte der Tochter schließlich vergeben, er sorgte für die Rente des Totengräbers und dieser wiederum für den Einkauf frischer Rosen. Allerdings war der Mann schon ein halbes Jahrhundert tot, und die Blüten waren längst zu Staub zerfallen.
An einem der Gräber blieb Martin irritiert stehen. Er musste sich kurz die Augen reiben, doch kaum nahm er die Hand weg, war es wieder da. Sein Hals brannte. In seinem Kopf drehte sich alles.
Gleich nebeneinander ruhten in steinernen Gräbern zwei Personen. Im Unterschied zu den meisten Friedhofsaufschriften konnte er hier jeden Buchstaben enträtseln. Das junge Paar, ein William Webster und seine Verlobte, war 1868 nach Sulina gekommen, um dem Vater einen Besuch abzustatten; dieser sollte seine Einwilligung zur Heirat geben, doch war ihr Dampfer gesunken. William hatte als Erster Offizier auf einem Schiff namens
Adalia
gedient.
Martin schluckte schwer. Dies konnte kein Zufall sein. William Webster. Für gewöhnlich vergaß er die Namen seiner Passagiere schon nach wenigen Tagen, doch dieser hier war ihm im Gedächtnis hängen geblieben.
Er sank auf die Knie und stützte sich mit den Händen am Grabstein ab. In seiner Erinnerung blitzten ein paar Sätze auf: »Das weiß ich ganz bestimmt. Eine Fahrt auf der
Adalia
war es, wo ich einst die Ehre hatte, als Erster Offizier zu dienen … da müsstest du bis ans Ziel gelangen, um es zu begreifen …«
Der Webster, oder wie immer er auch heißen mochte, könnte jetzt schon sonst wo auf der Welt unterwegs sein, vielleicht längst an Bord eines anderen Schiffes. Er versuchte sich an Details zu erinnern, die ihm der Alte erzählt, was er genau getan hatte, doch es gelang nicht. Es überkam ihn ein jähes und ihn bis ins innerste Mark erschütterndes Hassgefühl.
Von der orthodoxen Friedhofsecke aus wurde Martin genauer in Augenschein genommen. Zwei Witwen näherten sich ihm und begannenetwas zu erzählen. In ihren Mündern hatten sie kaum noch fünf Zähne, doch sie lächelten herzlich.
»Verzeihen Sie, kennen Sie vielleicht das Schicksal dieses Mannes?«, fragte Martin auf Russisch.
»Ein wenig. Der ist hier eine Legende, ein rätselhaftes Schicksal. Er starb bei einem Schiffsunglück auf der Donau, sie fischten ihn mit zerschundenem Gesicht heraus, viele weinten. Angeblich hatte er zwei weitere Menschen mit in sein nasses Grab genommen«, sagte die Alte. »Aber es ist doch schon so lang her …«
Lückenhaft versuchte er sich an einige Details zu erinnern. Venera, Clarc Collis. Zeiten, Orte, Abläufe. Er konnte tatsächlich dafür verantwortlich sein. Martin kam nicht darauf, warum. Das Geheimnis der letzten Schiffsreise ein tieferes war, als er es sich vorstellen konnte. Er versuchte, sich Webster noch einmal in Erinnerung zu rufen, doch anstatt des Kopfes sah er lediglich einen Totenschädel, und die Augen waren ein paar schwarze Löcher. Das Gesicht des Amerikaners hatte sich in eine abscheuliche Fratze verwandelt.
30. NEUES LEBEN
Am nächsten Tag reiste Martin Roy von Tulcea aus ab, eine Zugfahrt zweiter Klasse. In Medgidia stieg er in den Schnellzug nach Bukarest um, später fuhr er von der Station Bukarest Nord mit dem Taxi zum Flughafen Baneasa. Das einfache Betonoval wurde von Billigfliegern am Leben gehalten. Der Zoll bestand aus hölzernen Platten, hinter denen bewaffnete Soldaten gelangweilt Dokumente prüften. Er blickte durchs Fenster, sah die flache Ebene und eine Reihe von Lichtern entlang der Start- und Landebahn. Ein Autobus mit der Aufschrift »Braunschweig Hauptbahnhof« brachte ihn zu der mit laufenden Motoren wartenden Maschine. Er landete noch vor Mitternacht in Bratislava.
Martin betrat seine Wohnung und stolperte über die Werbesendungen, die sich an der Tür gesammelt hatten. Immer wieder lief er durch die Zimmer, und es überkam ihn ein
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