Tod auf der Donau
furchtbare Klopf-klopf, ganz nahe war es, Klopf-klopf, und hinzu kam das unablässige Krächzen der Krähen, schließlich so nah an seinem Kopf, dass er davon wach wurde und mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit starrte.
Er lag insgesamt acht Tage lang im Bett. Nastasja fütterte ihn voller Fürsorge. Nach dieser Ruhephase verspürte er endlich wieder neue Kräfte in sich. Sein Kopf war klar, und er fühlte sich lebendig. Er wiederholte sich immer wieder, dass die Stimmen der Vergangenheit wohl leiser und leiser werden würden, bis sie irgendwann gänzlich verstummten, doch insgeheim vernahm er ganz deutlich eine Stimme, die ihm sagte, dass ihm dies nie gelingen würde, dass er auch niemals diesen Schmerz im rechten Bein loswerden würde. Er setzte sich auf die Matratze. Auf dem kleinen Tisch neben dem Bett erblickte er saftige Weintrauben. Es ging ihm hier eigentlich ganz gut.
Als er wieder ganz gesund geworden war, kamen die feuchten Septembertage. Es regnete stark und nahezu ständig. Das Dach war aufgeweicht, einige Tropfen sickerten durch die Schindeln des Hauses.
Einmal war sogar ein deutscher Journalist von
GEO
in die Leprakolonie gekommen, er blieb ganze zwei Stunden, trank vier Bier und schrieb eine lange Reportage über jenes authentische Leben in der Kolonie.
Martin kam nicht umhin, an die Donau zu denken. Sobald er sich bemühte, die Geschehnisse an Bord zu rekapitulieren, verbot er es sich. Er sehnte sich danach, nach Bratislava zurückzukehren. Er hättenie gedacht, dass ihm eines Tages die slowakische Sprache fehlen würde. Er wollte wieder übersetzen. Er bedankte sich bei Nastasja für ihre Hilfe und eine finanzielle Unterstützung. Er würde sich, sobald er dazu in der Lage wäre, erkenntlich zeigen.
In der Leprakolonie funktionierte sogar das Internet, langsam zwar, doch es gab eine stabile Verbindung. Nach vier Wochen las er seine Mails. Unter all den Spams fand er auch die Einladung zu einer Erinnerungsfeier in Sulina, zu Ehren des Kapitäns Atanasiu Prunea. Am dortigen Friedhof würden sie ihm einen Grabstein widmen, wie er es sich gewünscht hatte.
29. DAS GEHEIMNIS DER LETZTEN SCHIFFSREISE
Nach Sulina gelangte man zweimal täglich von Tulcea aus mit einem Schiff namens
Bocxod-7
. Dieses war 1986 in der Sowjetunion gefertigt worden. 39 Seemeilen schnell, also etwa 63 Kilometer in der Stunde. Einen anderen Weg nach Sulina gab es nicht, man musste übers Wasser.
Die Linienschiffe wurden von den Einheimischen auch dazu genutzt, um die Deltagemeinden mit dem Allernötigsten zu versorgen. Es war deshalb gar nicht so einfach, an Bord der
Bocxod-7
zu gelangen. Nastasja hatte ihm per Telefon am Tag zuvor einen Platz reserviert. Die Abreise war für elf Uhr geplant, doch kannte er schließlich die Verhältnisse auf dem Balkan, im Hafen war er gut 40 Minuten früher. Vor einem schäbigen Schiff drängten sich nervöse Massen. Die meisten Leute hatten Rücksäcke umgeschnallt, karierte Taschen, die an Tischtücher erinnerten, doch gab es auch Zeltplanen, Fischernetze und Angeln. Im Hafen herrschte rege Betriebsamkeit. Möwengeschwader flogen ganz knapp über dem Wasser.
Am Eingang stand der Kassier, Reiseleiter und Aufpasser in einem. Dem Ausdruck seines zerfurchten Gesichtes nach bedauerte er zutiefst, nicht mehr in dunklen Gängen der Securitate politischen Häftlingen die Finger brechen zu dürfen.
»Guten Tag, ich bitte Sie, ich habe eine Reservierung«, sagte Martin.
»Nein, auf gar keinen Fall, wir sind absolut voll!«, fauchte der Mann, kaum dass er kurz eine Liste, die er in der Hand hielt, gemustert hatte.
»Ganz bestimmt sogar, ich habe telefonisch eine Reservierung vorgenommen«, erklärte er und nannte seinen Namen.
»Ich habe hier auf meiner Liste nichts davon stehen. Du kommst nicht an Bord. Die Liste lässt es nicht zu!«
Martin stand ganz in der Nähe des Schiffes, also wählte er eine bewährte Strategie, die er sich im Sozialismus angeeignet hatte – unter gar keinen Umständen jenen Platz in der Reihe aufzugeben, den man sich bereits erobert hatte. Trotzdem versuchte der Mann, ihn fortzuschieben.
In diesem Moment warf Martin einen Blick auf seine »Liste«. Noch nie hatte er ein so beschmiertes Stück Papier gesehen. Schiefe und mit groben Strichen skizzierte Tabellen erinnerten an ein Palimpsest voller überschäumender Angaben, Zahlen und Buchstaben.
In einer ähnlichen Situation wie Martin befanden sich auch einige andere Passagiere. Die Atmosphäre wurde
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