Tod auf der Donau
überaus ausgeschmückte Kommentare. Das internationale Taucherteam hatte mit Hilfe von Sensoren selbst die kleinsten Teile aus dem Wasser geborgen. Martin hatte seit der Katastrophe längst ein Buch fertig übersetzt und ein zweites in Arbeit, an jenem Abend jedoch konnte er sich nicht vom Fernseher losreißen. Die
MS America
ähnelte dem Leichnam eines großen, im Fluss lebenden Tieres. Das zerstörte Werk von Tausenden Arbeiterhänden mischte sich mit wilder Natur. Die Bullaugen des Schiffes erinnerten an leere Augenhöhlen, und ihreTränen bildeten fasrige Wasserpflanzen. Die Kamera zoomte so nah heran, dass er die aufgeplatzten Stahlnähte erkennen konnte. Die geisterhaften Kabinen wirkten wie ausgebrannte Kulissen aus einem Horrorfilm.
Seit der Schiffskatastrophe waren mehr als drei Jahre vergangen. Martin dachte oft an Mona, was wohl aus ihr geworden war und ob sie überhaupt noch lebte. Bald schon sollte sie sich bei ihm melden.
EPILOG
»Wenn du kannst, dann besuch mich doch in Regensburg. Je eher, desto besser!«, schrieb ihm Mona, und am Ende der SMS hinterließ sie ihre Adresse. Er las die Nachricht immer und immer wieder und fühlte sofort, dass sie diese ganz schnell getippt hatte, irgendwo in einer Bahn oder im Auto. Er wusste nicht, woher sie seine Nummer hatte. Zehn-, nein zwanzigmal las er den Text.
Er unterbrach die Übersetzung, die er gerade ausarbeitete, und entschloss sich, hinzufahren. Schnell packte er die nötigsten Sachen. Er surfte durch die Angebote der Reisebüros, doch ein Flugticket nach München kostete so kurzfristig eine astronomische Summe; und er hätte auch noch mit dem Zug weiterfahren müssen. Also druckte er sich eine Wegbeschreibung aus. Er nahm einen kleinen Rucksack in die Hand und begab sich zum Auto.
Nachdem er den Stadtverkehr hinter sich gelassen hatte, fuhr er auf die erste Autobahn auf, eine von vielen, die ihn an sein Ziel bringen sollte. Es nieselte, und er wusste, ungefähr drei Stunden langwürde es noch hell sein, dann käme die Dunkelheit. Er achtete nicht auf seine Umgebung, vielmehr konzentrierte er sich auf den monotonen Rhythmus der weißen Fahrbahnstreifen und die Lichter anderer Fahrzeuge. Er war ungeduldig, die Zeit schien stillzustehen. Die Scheibenwischer kämpften synchron gegen die Regentropfen. Er musste aufpassen, denn das prasselnde Wasser schläferte ein wie Wellenrauschen. Der frühe Abend verschwand im Zwielicht, und das Zwielicht wurde zur Nacht.
Er konnte nur an Mona denken. Er hatte keine Vorstellung davon, was unterdessen im Ausland mit ihr passiert war; er wusste auch nicht, wie sie erneut in Bayern landen konnte. Er wollte von ihr erfahren, wie sie sich hatte retten können, mit wem sie noch in Kontakt war, und ihr noch eine ganze Reihe weiterer Fragen stellen. Schließlich verfiel er in eine dieser langen und sinnlosen Meditationen, die nur dann auftraten, wenn ein Mensch zu lange allein Auto fährt. Bei gelegentlichen Ausblicken auf die Donau überkam ihn Gänsehaut.
Einen ersten Halt legte er bei Linz ein, einen weiteren bei Passau. Vor einem mit Neonlichtern versehenen Buffet neben einer Tankstelle standen ein vier Meter hoher Weihnachtsbaum, eine hölzerne Pyramide (die bestimmt zwei Tonnen wog) und ein zweieinhalb Meter großer Nussknacker. Martin bebte vor Kälte und fühlte sich viel zu weit von zu Hause entfernt. Dennoch setzte er die Reise fort. Er konnte es kaum noch erwarten, Mona zu sehen.
Vor Regensburg blieb er eine Weile auf einer Raststätte stehen, doch er stieg nicht aus, lieber studierte er auf der Karte noch einmal die Wegbeschreibung. Er versuchte sich den Wirrwarr an Abzweigungen und Straßennamen und Plätze einzuprägen. Dennoch kreiste er in engen dunklen Gässchen, hinter denen die Mauern zweier beleuchteter Kathedralstürme in den Himmel ragten. Der Nachtverkehr setzte sich hauptsächlich aus cremefarbenen Taxiwägen zusammen. Nach vielen Jahren war er wieder mal in der Donaumetropole angelangt. Zwischen den Häusern schaukelten ein paar Weihnachtsgirlanden wie im Wind aufgehängte Tannenzweige.
Die Anschrift »Am Wiedfang«, gleich in der Flussnähe, fand er schließlich. Zur Rechten befand sich die steinerne Brücke, die er schon unzählige Male unterquert hatte. Am Türschild las er Monas Namen. Einen Augenblick lang blieb er regungslos stehen. Dann drückte er auf die Klingel. Nach dem dritten Mal ertönte eine heisere Männerstimme aus dem kreisrunden Lautsprecher, die irgendwie vertraut klang. Die
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