Tod auf der Donau
mit einer Winde hinuntergleiten. Auf dem Ufer war nur hier und da ein nächtlicher Passant unterwegs. Vor zwei Jahren wäre es Martin nicht im Traum eingefallen, bei so etwas mitzumachen, nicht einmal vor zwei Monaten oder gar Wochen. Das Verschwinden eines Passagiers würde erst auf dem Flughafen in Bukarest oder überhaupt erst in den USA oder vielleicht noch später oder sogar erst nach Wochen entdeckt werden.
Dauernd hatte er diesen verstümmelten Körper vor Augen. Beide Verbrechen wiesen die gleiche Brutalität auf. Vielleicht hing alles zusammen: Mona, Venera, Clark Collis. Wer könnte der Täter sein? Vielleicht wurden diese beiden Leben sogar von mehreren Händen zerstört. Er konnte sich der Vorstellung eines kollektiven Verbrechens allerdings nicht ganz anschließen. Tamás band die Gewichte an den Leichnam, das Boot geriet ins Schwanken. Schließlich plumpste der Körper ins Wasser.
Martin rief die Besatzung zusammen. Die verschreckten Kollegen versammelten sich nach und nach im Speisesaal. Atanasiu versuchte, unantastbar zu wirken, doch er brachte die Angst mit, die man bekanntlich von allen Gefühlen am allerschlechtesten verbergen kann. In diesem Moment des kollektiven Schocks wusste niemand, was zu sagen oder gar zu tun war. Sie wirkten alle wie Schauspieler auf einer Bühne, die ihren Text vergessen hatten.
»Man hat den Passagier Clark Collis ermordet, doch die Polizei will keiner rufen!«, sagte Martin.
Im Raum hallte es nach: ermordet, ermordet, ermordet.
»Tamás, pass auf, dass niemand den Raum verlässt«, ordnete er an. »Glaubt ihr immer noch nicht, dass sich ein Mörder an Bord herumtreibt? Wir müssen die Sicherheitsmaßnahmen verstärken. Niemanden Fremden hereinlassen, den Eingang und die Kajüten versperren, jede verdächtige Bewegung beobachten. Wir müssen Wachen aufstellen.«
Martin bat alle aufzuschreiben, wo und mit wem ein jeder den Abend und die Nacht verbracht hatte.
»Habt ihr ein ungewöhnliches Geräusch gehört? Hat sich jemand von der Besatzung oder den Passagieren anders verhalten?« Er verteilte Papier und Stifte und fuhr fort: »Ich verstehe eure Befürchtungen. Wir alle sind entsetzt. Ich muss euch aber dennoch ein paar Fragen stellen. Versucht, möglichst ausführlich darauf zu antworten. Schreibt alles auf, ich bin es gewohnt, viel und schnell zu lesen. Denktauch an die Details, nach denen ich nicht fragen kann. Alles ist wichtig. Versteht ihr?«
Als nach 20 Minuten alle fertig waren, sammelten Martin und Mona die Berichte ein und reichten sie Atanasiu, der gemeinsam mit Erin die Angaben (laut Dienstplan und den Aussagen der jeweiligen Vorgesetzten) überprüfte. Die Crewmitglieder, die ein klares Alibi vorweisen konnten, durften gehen. Eine Gruppe machte sich auf, das Ober- und Unterdeck zu durchsuchen. Mit einigen Kollegen wollte Martin persönlich sprechen, etwa mit dem Maschinisten Dragan. Die Männer hatten viele Ausreden, wollten eigentlich nur schlafen gehen. Er bekam kein vernünftiges Wort aus ihnen heraus. Die Frauen kamen mit der ganzen Warterei besser zurecht, doch auch sie schwiegen eisern. Die Mitarbeiter würden auf keinen Fall etwas tun, was der Firma schaden konnte.
»Was für ein Mensch war Clark Collis eigentlich? Bist du mit ihm in Kontakt gekommen?«, fragte Martin abschließend jeden.
Er versuchte, sich ein unvoreingenommenes Bild von dem Toten zu machen. Vielleicht musste Collis sterben, weil er war, was er war. Zwei Stunden später hatte Martin gut sieben Porträts aus fremden Gedächtnissen beisammen und machte sich daraus eine eigene Vorstellung. Danach löste Atanasiu die Versammlung im Salon auf.
»Ich will deine Meinung zu dem Verbrechen hören«, forderte Martin ihn auf.
»Du weißt über die ganze Angelegenheit mehr als ich. Du weißt ja eh wieder alles«, gab Atanasiu unwirsch zurück.
»Fast alle Passagiere waren weg. Das hier ist eine Katastrophe und wahrscheinlich auch das Ende deiner und meiner Karriere. Der Mörder denkt wohl, dass er uns in diesem Irrenhaus an der Nase herumführen kann«, sagte Martin. »Und das gelingt ihm auch.«
»Es ist erst nach der Rückkehr passiert …«
»Ich hoffe, du hast ein gutes Alibi.«
Sie gingen im Streit auseinander. Martin ging einen Stock höher, querte den leeren Salon bis zur Bar, nahm sich eine Flasche Tequila,schraubte sie auf und klemmte sich den Flaschenhals zwischen die Zähne. Binnen ein paar Sekunden war er von diesem Getränk vollkommen eingelullt. Er betrank sich
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