Tod auf der Donau
Augen fielen. Er zögerte einen Augenblick, ob die Erde die Wirklichkeit war und nicht einfach nur sein Hirngespinst. Sein Magen verkrampfte sich. Er hustete schwarzes Wasser. Die Welt um ihn herum drehte sich, er allerdings fühlte sich nicht als Teil von ihr. Es schien ihm weitaus leichter zu sterben, denn zu leben. Er roch den Duft von Ethanol. Er hörte eine entfernte Stimme, die Wörter konnte er jedoch nicht verstehen. Plötzlich vernahm er ganz deutlich:
»Ich glaube, er wird wach.«
Jemand berührte seine Stirn. Martin versuchte, die Hand wegzustoßen, Schmerzen durchzuckten ihn. Er gab auf. Etwas zwickte ihn in die Hand. Das Gesicht schmerzte höllisch, und der Unterarm kribbelte. Das Wasser fraß sich an seiner verbrannten Haut fest. Er öffnete die Augen, zuerst erkannte er nur seltsame helle Punkte, dann tauchte in seinem Sichtfeld etwas auf. Eine graue Krabbe mit gehobenen Scheren, sie floh vor ihm.
»Können Sie sprechen? Hören Sie mich?«, fragte ihn die Krankenschwester.
Er nickte. Sein Herz pochte gegen den Brustkorb, der Schädel war am Explodieren, in tausend kleine Stücke. Er blutete am Kinn und an der Taille, konnte jedoch endlich seine Arme bewegen und den Mundöffnen und schließen. Er kam zum Schluss, dass er sich nichts gebrochen hatte. In der Leere über ihm schwebten Raben.
»Sagen Sie mir bitte, wie Sie heißen, und zählen Sie bis zehn.«
»Martin Roy. Einhundertzwanzig.«
»Bitte?«
»Einhundertzwanzig Passagiere und vierzig Besatzungsmitglieder.
MS America
.«
Sobald er dies ausgesprochen hatte, war ihm klar, dass er schon wieder log.
»Ich verstehe. Danke, das wissen wir schon. Können Sie atmen? Haben Sie sich etwas gebrochen?«
Ärztinnen des Roten Kreuzes begrüßten ihn.
»Ich bin in Ordnung, mehr oder weniger«, flüsterte er, »glaube ich zumindest.«
»Können Sie uns bitte sagen, wie Sie sich gerettet haben?«
»Ich weiß nicht, ich weiß gar nichts mehr … Ich bin gesprungen … Alles ging so schnell … wahrscheinlich habe ich …« Er stockte.
Er konnte sich nur schwer konzentrieren. Es dämmerte, der Regen hörte langsam auf. Der Fluss floss wie immer, beständig, majestätisch und wusste längst nichts mehr über Mona oder Martin. Die Welt um ihn herum sah aus wie in den ersten Jahrhunderten nach ihrer Entstehung, alles war spur- und erinnerungslos an ihr vorbeigegangen. Der Wind blies konstant und mit solcher Kraft, dass Himmel und Luft großen angespannten Segeln glichen.
»Ruhen Sie sich aus. Strengen Sie sich nicht zu viel an. Trinken Sie! Versuchen Sie, tief einzuatmen.«
Er biss die Zähne fest zusammen, man stützte ihn. Man gab ihm zu trinken. Bei jedem Schluck drohte er zu ersticken, sein Kehlkopf sprang auf und ab, er fing wieder an zu husten. Der Schmerz in seiner Schulter stach ihn bei jeder Bewegung, scharf wie ein Rasiermesser. Man zerschnitt die Reste seines Hemdes. Die Krankenschwester informierte die Kollegen über seinen Blutdruck, und eine andere legte ihm ein Stethoskop an die Brust, kontrollierte den schnellen Herzschlagund seinen Atem. Er verdrängte die losen Bruchstücke von Erinnerungen in seinem Bewusstsein, er wollte, dass sie verschwinden, er musste sich jetzt auf die Gegenwart konzentrieren.
Soldaten mit Hunden und Polizeigeländewagen durchsuchten beide Ufer. Die Taschenlampen und Scheinwerfer durchkämmten die schwer zugänglichen Böschungen. Uniformierte Männer mit Fernstechern observierten die Umgebung.
»Wo sind die Passagiere? Wie viele haben überlebt?«
»Nur die Ruhe, sie sind gut versorgt, wir haben ein Lager errichtet, machen Sie sich keine Sorgen, jetzt müssen Sie einfach nur tief einatmen«, antwortete die Frau, doch er ließ nicht nach, bis sie ihm die Richtung zeigte.
»Ich muss zu ihnen! Sofort. Das werden Sie nicht …«
»Sie dürfen jetzt nicht fort. Sie sind verletzt. Es ist weit!«, warnte sie, doch Martin hörte sie nicht mehr.
Er hatte keine Zeit, sich behandeln zu lassen, schließlich ließ er sich ein paar Kompressionsverbände um Schulter und Taille fixieren. Man desinfizierte seine Wunden, er schluckte ein paar Schmerztabletten und ging los.
Er kämpfte sich durch einen Urwald, glänzende fleischige Blätter, durch Sumpf und Schlamm. Der Seewind blies Salz auf seine Lippen. Der Schlamm unter seinen Füßen gab saugende Geräusche von sich. Den rechten Fuß spürte er kaum noch, der linke blutete. Die Binsen wuchsen hier sehr dicht. Er verschreckte ein paar fette Frösche, die sofort ins
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