Tod auf der Piste
Mitternacht eintreffen würde. Immer wenn Irmi Hoffnung schöpfte, der Wind würde abflauen, brausten neue Böen heran, so als hätten sie sich irgendwo gesammelt, um Kraft zu schöpfen und nur noch gestärkter heranzurollen. Eine neue Böe dröhnte und rüttelte an den Läden auf der Westseite, die sie vorsichtshalber geschlossen hatte.
Irmi war inzwischen zigmal ans Fenster auf der Südseite getreten und hatte hinausgestarrt. Der Himmel war minutenlang aufgerissen, es war gespenstisch hell, Äste wirbelten vorbei. Irmi zog unwillkürlich den Kopf ein. Was, wenn der alte Apfelbaum sein Haupt neigen und den Stadel treffen würde? Was, wenn es brennen sollte? Und was, wenn sie die Tiere nicht mehr rechtzeitig aus dem Stall würde treiben können?
Mit zwanzig hätte sie niemals darüber nachgedacht, was alles passieren könnte, wozu auch? Mit zwanzig hatte sie nie wach gelegen, sie hatte nie morgens um vier mit Herzrasen über ihr Leben nachgedacht, über den aktuellen Fall, über all die Berge, die sich auftürmten und deren Eroberung gerade um diese Nachtzeit schier unmöglich schien.
»Zruckdenken« hatte ihr alter Onkel Sepp den Prozess des Nachdenkens genannt, er hatte nie ein anderes Wort verwendet. Mit zwanzig hatte sie das komisch gefunden, heute nicht mehr. Denn wurde Nachdenken nicht mehr und mehr ein Zurückdenken und weniger ein Vorwärtsdenken in eine verheißungsvolle Zukunft? Sie wurde alt, das war es wohl.
10
»Du schaust aus wie a Leich«, sagte Kathi in ihrem kernigen Tiroler Dialekt.
»Danke, ich habe auch kaum geschlafen, der Sturm bringt mich noch mal um.«
Kathi runzelte die Stirn. »Ich hab prima geschlafen, beim Nachbarn ist ein Stück Dach weggeflogen, das hab ich gar nicht bemerkt.«
»Dann mal wieder auf nach Ettal, zu Lutz und Robin«, meinte Irmi betont freundlich, aber auch darauf reagierte Kathi nicht. Sie war einfach ein Emotions-Bulldozer.
Am Ettaler Berg kroch ein Niederländer bergan. Irmi stieß ein paar Flüche aus, denn an Überholen war nicht zu denken. Eigentlich gab es nur einen wirklich erfreulichen Monat, wenn man in einem Touristengebiet wohnte, und das war der November. Da waren die Alpen weitgehend frei von Besuchern aus den nordwestlichen Nachbarländern.
»Lutz Rasthofer liegt mit einer schweren Erkältung im Bett, er darf nicht gestört werden. Der Bub muss sich erst mal auskurieren«, erfuhren sie vom Schulleiter.
»Dann würden wir gerne Robin Senftle sprechen«, erklärte Kathi.
»Der ist ebenfalls krank, er wurde gestern von seinem Großvater abgeholt.«
»Das ist ja die reinste Epidemie!«, bemerkte Kathi in scharfem Ton.
»Ja, wo viele Menschen eng zusammenleben, ist die Ansteckungsgefahr eben höher.« In seiner Stimme lag keinerlei Modulation.
Irmi hätte jetzt natürlich einen Aufstand machen können, aber sie verzichtete darauf, auch weil sie sich immer noch so schwach und müde fühlte. Ihr war nicht nach Konfrontation zumute. »Wir kommen ein andermal wieder«, sagte sie und schob Kathi quasi aus der Tür.
»Toll! Und jetzt?«
»Fahren wir nach Oberammergau«, schlug Irmi vor. »Wir könnten die Eisorgie des Cellerars verifizieren, und außerdem brauch ich dringend einen guten Kaffee.«
Immer wenn sie durch Oberammergau fuhr, hatte sie das Gefühl, irgendetwas stimme nicht. Diese Lüftlmalerei, all die Schaufenster mit den seligen Madonnen, so war das Leben doch nicht.
Das Kult-Café hatte wieder offen, es schloss meist im November und öffnete Ende März wieder, wenn die Frühlingssehnsucht übermächtig wurde. Hier war der Caffè Doppio exzellent, und die Eistheke sah verführerisch aus wie immer. Aber kein normaler Mensch aß an einem Vormittag im April einen Eisbecher. Und keine Frau hätte sich eine so feiste Torte bestellt wie jene, die Kathi gerade in sich reinstopfte. Im Gegensatz zu Irmi konnte Kathi essen wie ein Holzfäller, ohne ein Gramm zuzunehmen.
Nachdem der Espresso seine Wirkung getan hatte und Irmi sich etwas wacher fühlte, rief sie die Bedienung heran.
»Sagen Sie, waren Sie letzten Sonntag auch hier?«
»Ja, da war richtig was los. Das Wetter war ja fast wie Sommer.«
»Irgendwann reicht es ja auch mit dem Winter, gell«, versuchte Irmi ein bisschen Small Talk. »Sagen Sie, kennen Sie den Cellerar des Klosters, und war der da?«
»Natürlich kenn ich den. Er kommt öfter. Am Sonntag war er mit einem kleinen Jungen hier, der war so ein bisschen dunkel, also etwas anders halt, wissen Sie.«
»Wann waren die beiden
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