Tod auf der Themse
Roffels Lidern gelegen hatten, und seine Augen waren halb offen. Der
Kinnriemen war entfernt worden, und die Wunde am Hals war ein dunkelroter
Schnitt. Cranston schaute den Pergamentfetzen an und erkannte, daß
der Urheber dieser Freveltat seinen Finger zum Schreiben benutzt hatte.
Da sie sahen, wie überwältigt
Pater Stephen war, legten sie den Toten behutsam wieder in seinen Sarg.
Cranston flüsterte, er habe in Frankreich beim Füllen der
Massengräber Schlimmeres gesehen. Athelstan hingegen, obwohl er schon
so manchen Todesfall erlebt hatte, zitterte, als er den kalten Leichnam
berührte, und erwartete halb, er würde gleich zum Leben
erwachen. Sie legten den Toten so schicklich wie möglich in den Sarg.
Erst jetzt betrachtete Athelstan das harte Gesicht, die hohen
Wangenknochen, die dünnen, blutlosen Lippen und den schmalen,
totenschädelähnlichen Kopf von Kapitän William Roffel.
»Furchtbar im Leben,
furchtbar im Tode«, murmelte Athelstan.
Er schlug ein Kreuz über
dem Toten, öffnete dann ohne weitere Umstände die Knöpfe an
seinem Wams, schlug das leinene Hemd zurück und betrachtete
aufmerksam den Oberkörper. Jemand hatte den Bauch aufgestochen, damit
er nicht anschwoll, aber Athelstan sah auch ein paar verräterische,
mattrote Flecken. Der Ordensbruder lächelte befriedigt und bat
Cranston mit einem Seufzer der Erleichterung, ihm zu helfen, den Deckel zu
schließen.
Cranston deutete auf das Stück
Pergament.
»Sollten wir das nicht
abnehmen?«
Athelstan zuckte die Achseln.
»Gott verzeih mir, Sir John, aber darin sehe ich wenig Sinn. Es ist
ja die Wahrheit. Kapitän Roffel war ein Mann des Teufels. Es war ein
Akt der Rache, seine Totenruhe zu stören und seine Kehle
durchzuschneiden.« Sie hatten den Deckel geschlossen. »Aber
ich sage Euch, er wurde ermordet. Sein Bauch zeigt die verräterischen
Spuren des Giftes.«
Sie vergewisserten sich, daß
die Kirche abgeschlossen war, und führten den noch immer zitternden
Pater Stephen in sein Haus zurück. Athelstan schenkte ihm einen
Becher Wein ein, sah, daß er versorgt war, und ging hinaus zu
Cranston.
»Mein verdammter
Weinschlauch ist leer!« schimpfte der Coroner. »Mir ist
gleich, was du sagst, Athelstan - ich jedenfalls brauche nach diesem
Anblick dringend was zu trinken.«
Der Bruder hakte sich beim
Coroner unter und führte ihn zurück in die inzwischen verlassene
Cheapside; sorgfältig steuerte er ihn an Müllbergen vorbei zum
»Heiligen Lamm Gottes«. Zwei Schluck Rotwein, und Cranston
entspannte sich und strahlte in die Runde der übrigen Gäste.
Athelstan war ernster. Er
packte das Handgelenk des fetten Coroners. »Wir wissen jetzt, daß
Roffel ermordet wurde, aber von wem, wie und warum, das ist ein Geheimnis.
Zudem müssen wir der Möglichkeit ins Auge sehen, daß den
Ersten Maat und seine beiden Kameraden ein
ähnliches Schicksal ereilt hat.«
»Glaubst du, Osprings
Tod hängt auch damit zusammen?«
Athelstan schüttelte den
Kopf. »Nein, nein. Bei Ospring handelt es sich um ein Verbrechen aus
Leidenschaft. Ein Mord, der ohne einen Augenblick des Nachdenkens begangen
wurde. Dort liegt auch ein Geheimnis. Aber das Geheimnis, das wir aufzuklären
haben, Sir John, ist die Frage, was auf dieser Reise geschehen ist - wie
drei kerngesunde Seeleute nachts von ihrem Schiff verschwinden konnten,
obwohl nach Auskunft des Admirals noch kurz vor Eintreffen des Matrosen
und seines Mädchens Signale von der God’s Bright Light übermittelt
wurden.«
»Du bist der Student
der Logik«, murmelte Cranston. »Welche Möglichkeiten gibt
es denn? Man hat uns gesagt, es wäre kein Boot gesehen worden, das zu
den Schiffen fuhr.«
»Was ist mit
Schwimmern?« fragte Athelstan.
Cranston schüttelte den
Kopf. »Bruder, stell dir eine Gruppe von sechs bis zehn Mann vor.
Sie erreichen das Schiff, klettern an Bord, ohne von der Wache bemerkt zu
werden, und erledigen drei Mann, ohne daß Alarm gegeben wird. Sie
hinterlassen keine Spur von Gewalt und verschwinden wieder. Aber wir haben
keine Ahnung, warum sie gekommen sein sollten. Niemand hat sie gesehen,
und es werden immer noch Lichtzeichen und Parole weitergegeben. Ich kann
mir nur eine Möglichkeit denken: Die drei Matrosen sind über
Bord gesprungen.« Cranston blähte die Wangen auf. »Aber
da bleiben immer noch zwei Probleme. Niemand hat die drei
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