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Tod einer Verrückten

Tod einer Verrückten

Titel: Tod einer Verrückten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Magdalen Nabb
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an, und er hörte zwei Stockwerke über sich Di Nuccios Stimme. Dann hatte es also keinen Kampf gegeben, kein Drama. Di Nuccio hatte es geschafft, den Eindringling zu überrumpeln – genau die Sorte Einsatz, die ihm Spaß machte. Sobald der Maresciallo die beiden herunterkommen hörte, fiel ihm das Atmen leichter, und er begann die Treppe hinaufzusteigen. Die Stufen waren so steil, daß er nur langsam vorankam – aber warum kamen die beiden noch langsamer herunter? Viel zu langsam. Er hörte Di Nuccio ärgerlich murmeln, dann einen entrüsteten Laut des anderen. Er blieb stehen, um zu horchen, und sofort war ihm klar, daß das langsame Vorwärtskommen und das schleifende Geräusch des einen Paar Füße bedeuteten, daß sie den hinkenden Erpresser geschnappt hatten. Doch die zweite Erkenntnis, nämlich daß dieser seinen schleppenden Gang absichtlich übertrieb, folgte nicht schnell genug. Bevor die beiden in Sicht kamen, schaltete sich die automatische Treppenhausbeleuchtung ab, und als der Maresciallo auf dem abbröckelnden Verputz nach dem Schalter tastete, hörte er einen dumpfen Schlag, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Schuß .
    »Maresciallo! «
    Er polterte bereits die Treppe hinauf, nachdem er einen Lichtschalter gefunden hatte .
    Di Nuccio, der sich langsam aufrappelte, hielt sich mit einer Hand die blutende Schulter .
    »Das Fenster …« Sein Gesicht war aschgrau .
    Der Maresciallo eilte an ihm vorbei und zog, sobald er Clementinas Wohnung erreichte, seine Beretta aus dem Halfter. Aber der Mann war schon draußen auf dem Gerüst. In allen Häusern in der Straße gingen Lichter an, die Leute stießen die Fensterläden auf, beugten sich aus den Fenstern und riefen einander zu: »Was ist passiert? «
    »Verdammt!« Wenn er in der Dunkelheit zu schießen begann, ging er das Risiko ein, einen Schaulustigen zu treffen. Der Mann ließ sich auf den Laufboden rechts unter dem Maresciallo hinuntergleiten .
    »Bruno!« Nun hing alles von ihm ab. Er hatte eine ausgezeichnete Kondition und konnte sich gut verteidigen, aber der Mann, der sich am Gerüst hinunterschwang, erinnerte eher an einen Gorilla als an ein menschliches Wesen. Wegen der Laufböden und des Netzes konnte der Maresciallo Bruno nicht sehen, hörte aber seine raschen Schritte; der andere hörte sie ebenfalls. Humpelnd lief er auf den Laufböden entlang, bis ihn nicht etwa sein hinkendes Bein, sondern der vom Gewitterregen nasse Untergrund stoppte. Er rutschte aus und fiel mit seinem ganzen Gewicht auf die Hüfte. Dabei prallte sein Kopf mit solcher Wucht auf ein Verbindungsstück am Metallgestänge, daß es einen normalen Schädel zertrümmert hätte, aber er war nicht einmal benommen. Als ihn der Schwung über den Rand des Laufbodens katapultierte, schrie er auf und versuchte sich mit letzter Kraft festzuklammern, doch seine Hand rutschte an der glitschigen Holzkante ab, er stürzte zwischen Gerüst und dem lose hängenden Netz hinunter und knallte auf das emporgewandte Gesicht von Bruno, der soeben unten vor dem Haus angekommen war .
    Der Maresciallo saß da, die Hände unbeweglich auf die Knie gestützt, und starrte mit großen, sorgenvollen Augen auf die weiße Wand gegenüber. Sein Hut lag neben ihm auf einem Resopaltisch. Die Stühle im Flur waren bis auf einen am anderen Ende leer; dort saß eine grauhaarige Frau, die lautlos vor sich hin weinte und sich ab und zu mit einem zusammengeknüllten Taschentuch die Wangen abtupfte. Im Gang brannte ein schwaches Licht, und die sporadischen lauten Bemerkungen einer unsichtbaren Krankenschwester wirkten in dieser gedämpften Atmosphäre fehl am Platz. Am Ende des Flurs befand sich eine Flügeltür mit zwei runden Fenstern, auf der »OP-Bereich. Für Unbefugte kein Zutritt« stand .
    War Bruno da drin? Der Maresciallo hatte keine Ahnung. Er war am Leben gewesen, als der Krankenwagen eintraf, hatte aber so reglos auf dem Straßenpflaster unter der Decke gelegen, die Pippos Frau heruntergebracht hatte, daß es nicht so aussah, als würde er sich je wieder bewegen .
    Franco hatte dagestanden, auf die zusammengekauerte Gestalt hinuntergeblickt und gemeint: »Armer Junge. Sieht übel aus.« Und dann hatte er mit der für ihn typischen Unbekümmertheit hinzugefügt: »Sollten Sie nicht lieber Verstärkung rufen, um Ihren Kunden abtransportieren zu lassen? Sie wollen doch sicher mit ins Krankenhaus fahren. «
    »Er ist entwischt«, hatte der Maresciallo geknurrt .
    »Den Teufel ist er«, sagte Franco ruhig.

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