Tod eines Fremden
waren zu früh, wie Hester erwartet hatte. Sie war sehr erleichtert zu hören, dass Rathbone an diesem Morgen nicht zum Gericht musste, und wenn sie warteten, bestand die Chance, dass er sie nach seinem ersten Mandanten empfangen konnte, der um halb zehn einen Termin hatte, zu welcher Zeit der Sekretär auch Rathbone selbst erwartete.
Kurz nach zehn wurden sie in sein Büro gebeten, aber Hester hatte das Gefühl, wäre nicht Margaret dabei gewesen, hätte sie länger warten müssen.
Rathbone kam ihnen entgegen, um sie zu begrüßen, und zögerte einen Augenblick, an wen er sich zuerst wenden sollte. Es war so ein kurzes Zögern, dass Hester es kaum bemerkte, und doch kannte sie ihn weit besser als Margaret und hatte sich nicht geirrt.
»Hester, wie schön, Sie zu sehen«, sagte er lächelnd. »Selbst wenn ich mir vollkommen sicher bin, dass Sie um diese frühe Stunde in geschäftlichen Angelegenheiten kommen, die zweifellos mit Ihrem Haus am Coldbath Square zu tun haben.« Er wandte sich Margaret zu. »Guten Morgen, Miss Ballinger.« Seine Wangen wurden von einer leichten Röte überzogen. »Ich freue mich, dass Sie ebenfalls kommen konnten, obwohl ich fürchte, dass mir noch kein Weg eingefallen ist, wie man Ihren Geldverleiher mit den Mitteln des Gesetzes aufhalten kann. Und glauben Sie mir, ich habe darüber nachgedacht.«
Margaret erwiderte seinen Blick mit einem offenen Lächeln, doch als ihr plötzlich klar wurde, wie kühn sie war, senkte sie den Blick. »Ich bin mir sicher, Sie haben alles getan, was …«, sagte sie und unterbrach sich dann. »Wir haben auch viel darüber nachgedacht, und bestimmte Vorkommnisse haben die Sachlage erheblich beeinflusst. Hester wird es Ihnen erzählen, es ist ihre Idee … obwohl ich ihr von Herzen beipflichte.«
Nachdem er sie gebeten hatte, Platz zu nehmen, wandte sich Rathbone mit hochgezogenen Augenbrauen und einem ausgeprägten Gefühl böser Vorahnungen Hester zu. »Und?«
Sie wusste, dass ihre Zeit bemessen war, und wollte keine Worte verschwenden oder die falschen wählen. Sie war bereit, das Risiko einzugehen und zu übertreiben. Wenn sie sich irrte, konnte sie sich später entschuldigen. Sie stürzte sich kopfüber hinein.
»Ich weiß, wer der Wucherer ist … war«, sagte sie mit Gewissheit. »Es war eine Partnerschaft, ein Mann hat die jungen Frauen ausfindig gemacht und ihnen Geld geliehen, und der andere hat das Bordell geführt und die alltäglichen Angelegenheiten geregelt. Er hat die Rückzahlungen eingesammelt und die Strafen eingetrieben, wenn sie zu spät erfolgten. Derjenige, der das Geld verliehen hat, ist tot«, fügte sie hinzu.
»Dann hat das Geschäft ein Ende?«, fragte er zweifelnd. »Wird er keinen anderen Geldverleiher finden oder den Part selbst übernehmen?«
»Das kann er nicht«, antwortete sie. »Er hat weder die nötigen Fähigkeiten noch die Gelegenheit, junge, äußerst verletzliche Frauen zu treffen. Er ist ein Bordellbesitzer, und er sieht aus und spricht wie einer.« Sie beugte sich leicht vor. »Was er braucht, im Augenblick verzweifelt braucht, ist jemanden, der ein Gentleman zu sein scheint, der aber geschäftliche Fähigkeiten besitzt und ein gewisses Quantum Charme, um junge verschuldete Frauen so zu täuschen, dass sie sich in dem Glauben, sie könnten es mit ehrlicher Arbeit zurückzahlen, etwas von ihm leihen.« Sie beobachtete ihn aufmerksam, um sicherzugehen, dass sie den Fall verständlich darlegte, aber doch nicht so offensichtlich, dass er ihr voraus war und sich weigern würde, bevor sie die Gelegenheit hatte, den ganzen Plan zu erläutern.
»Ich nehme an, dass er jemanden finden wird«, sagte Rathbone und machte das humorvoll-betretene Gesicht, das sie so gut kannte. »Der Gedanke, dass es ihm vielleicht nicht gelingt, ist sehr reizvoll, aber unrealistisch. Es tut mir Leid.«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung.« Hester nickte. »Wenn ihm das nicht gelingen würde, müssten wir uns keine Sorgen machen.«
»Ich kann es nicht verhindern, Hester«, sagte er ernst. »Und ich kann auch nicht herausfinden, wer es sein wird. Ich wünschte, ich könnte. Oder wollen Sie andeuten, dass wir, wenn wir dem ganzen Spuk ein Ende bereiten wollen, nur sehr wenig Zeit haben?« Er sah zutiefst bekümmert aus. »Ich würde etwas unternehmen, wenn ich nur wüsste, was. Es hat keinen Sinn zu versuchen, das Haus zu schließen. London ist voller Prostitution und wird es womöglich auch immer sein, wie alle großen Städte.« Seine Augen
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