Tod eines Mathematikers
Machte meinen Job. Auch wenn ich die Redaktion jeden Morgen mit einem flauen Gefühl im Magen betrat, das mich den ganzen Tag über begleitete. Und das besonders schlimm wurde, wenn ich Kossek meine Artikel mailte. Doch er redigierte behutsam, änderte höchstens mal ein Wort, das dann auch wirklich treffender war.
Binnen weniger Wochen war es dem neuen Lokalchef gelungen, die Kollegen einzulullen. Knut Kossek war, was man ihm auf den ersten Blick nicht zugetraut hätte, ein Menschenfänger. Seine Aknenarben rührten die Leute wahrscheinlich, sodass sie ihm mit besonderer Freundlichkeit begegneten. Und auch Kossek schien herzlich im Umgang zu sein. Er duzte mit jedem Tag mehr Kollegen in der Redaktion. Erst die altgedienten Redakteure, dann die Reporter, schließlich die Sekretärinnen und sogar die Boten. Es war, als hätte er einen geheimen Wettbewerb um seine Gunst ausgeschrieben. Die Kollegen wetteiferten regelrecht darum, in den erlauchten Kreis derjenigen erhoben zu werden, die den Chef duzen durften. Kossek gab gern den Kumpel, legte seinen Untergebenen die Hand auf die Schulter, wenn er mit ihnen sprach.
Außerdem konnte er gut reden, reden wie ein Sektenführer. Knut Kossek sprach, wie es nur ganz wenige Leute können, druckreif, stolperte nie über die Fallstricke deutscher Grammatik. Er konnte begeistern, mitreißen. Die Kollegen folgten ihm bald wie Schafe ihrem Hirten. Niemand dachte mehr an Schröder. Außer mir natürlich. Aber es war mir noch immer nicht gelungen, herauszufinden, warum sich mein alter Chef umgebracht hatte. Niemand redete mit mir, egal, wen ich anrief. Selbstmord sei Privatsache, ließen mich selbst Informanten, die mir sonst ein Ohr abkauten, auflaufen.
Inzwischen hatte ich mir den alten Band mit den Zeitungen von 1990 angesehen. Schröder hatte mehrere Vermisstenaufrufe verfasst, allerdings ohne zu erwähnen, dass es sich bei der verschwundenen Nicole Wollenbeck um seine Cousine handelte. Es war mir auch gelungen, einen alten Kollegen ausfindig zu machen, der jetzt in Dresden arbeitete. Er konnte sich noch gut daran erinnern, dass Schröder nach dem Verschwinden seiner Cousine völlig aufgelöst gewesen war. Dass er sich sogar eine Auszeit genommen hatte, um nach ihr zu suchen. Und dass er sich nach seiner Rückkehr sehr merkwürdig verhalten hatte. Ausflippte, wenn jemand wagte, ihn nach seiner Cousine zu fragen. ›Nicole lebt. Sie ist ausgestiegen. Das ist ihr gutes Recht. Sie ist erwachsen‹, faltete er jeden zusammen, der es wagte, das Thema anzuschneiden. Was der Kollege mir erzählte, klang seltsam. Entweder hatte Schröder auf seiner Suche nach Nicole etwas erfahren, das ihn aus der Bahn geworfen hatte. Oder er verdrängte die Wahrheit mit einer Vehemenz, die pathologische Züge trug. Mir war er jedenfalls ein guter Chef gewesen, der mich nach Kräften gefördert hatte. Diese Zeit war unwiderruflich vorbei.
Kossek verhielt sich mir gegenüber distanziert. Wahrscheinlich war ihm die Erinnerung an jene Nacht peinlich. So wie mir. Außerdem wollte er offenbar verhindern, dass ich mir von unserem kurzen Stelldichein auf dem Billardtisch irgendwelche Vorteile erhoffte. Als wenn ich das nötig gehabt hätte. Wenn ich meine Themen in der Konferenz vorstellte, nickte Kossek bloß, ohne mich anzusehen. Ansonsten ging er mir aus dem Weg. Und ich ihm. Wenn wir uns doch mal im Flur begegneten, nickten wir uns nur kurz zu und gingen aneinander vorbei. Allerdings wartete ich immer, bis Kossek mich zuerst grüßte. Wenn es sich gar nicht vermeiden ließ und er etwas von mir wissen wollte, schrieb er mir eine Mail.
Alexandra, Sie kümmern sich doch um den Mordfall in der Neustadt?
Selbstverständlich, Herr Kossek.
Demonstrativ siezte ich ihn. Er war mein Chef. Nicht mein Freund. Trotzdem konnte ich nicht leugnen, dass mich seine Missachtung traf. Er riss, ohne es zu ahnen, eine alte Wunde auf.
Zu kündigen und mich auf meinen Erbteil zu verlassen, kam für mich nicht infrage. Erstens stand nun doch nicht genau fest, wie viel Geld der Nachlass umfasste. Außerdem hatte ich keine Lust, mich den Rest meines Lebens auf der Kohle meines verhassten Kuckucksvaters auszuruhen. Geld bedeutete mir nicht sonderlich viel. Und ich liebte meinen Job. Ich sah auch nicht ein, das Feld zu räumen, nur weil Knut Kossek die Bühne betreten hatte. Fast hätte ich die Ausfahrt nach Neuwarden verpasst, so vertieft war ich in meine Gedanken.
Lieselotte Weinert-Klemm hatte nur ihre Telefonnummer
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