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Tod eines Mathematikers

Tod eines Mathematikers

Titel: Tod eines Mathematikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Herrnkind / Walter K. Ludwig
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veröffentlicht, nicht aber die Straße, in der sie wohnte. Ich fuhr zu der Adresse, die auf der Postkarte stand, doch sie stimmte nicht mehr. An einer Tankstelle fragte ich nach. Die Kassiererin kannte nicht nur die neue Adresse, sie wusste sogar zu erzählen, dass Lieselotte Weinert-Klemm inzwischen alleine lebte, weil ihr Mann Hugo Weinert vor einem Jahr gestorben war.
    »Sie sind eine Dorn, oder?«, fragte sie mich zum Abschied.
    »Ja, ich bin eine Cousine von Katja. Wir sehen beide unserer Urgroßmutter sehr ähnlich«, log ich, ohne groß darüber nachzudenken.
    Die Kassiererin nickte und trug mir auf, Lieselotte Weinert-Klemm »schöne Grüße« auszurichten.
    Die alte Freundin meiner Mutter wohnte in einem spießigen Rotklinkerbau. Als sie mir die Tür öffnete, konnte ich die Antworten auf all meine Fragen in ihrem Gesicht lesen. Ohne dass ich mich vorgestellt hatte, wusste sie, wer ich war, starrte mich aus wachen, hellblauen Augen an. Lieselotte Weinert-Klemm war Anfang sechzig, ein paar Jahre älter als meine Mutter jetzt gewesen wäre. Sie war füllig, trug ihr Haar zum Pferdeschwanz gebunden. Eine Strähne, die ihr über die Wange fiel, nahm ihrer Frisur die Strenge.
    »Komm rein«, sagte sie, als sei ich eine alte Bekannte, und führte mich in die Küche. Dort bedeutete sie mir mit einem Kopfnicken, dass ich an der Essecke Platz nehmen sollte. Ich rutschte in die Küchenbank. Auf dem Tisch lag eine Spitzendecke, an der Wand hingen weiß-blau bemalte Teller. Ohne das Wohnzimmer gesehen zu haben, wusste ich, dass über dem Sofa eine selbst gehäkelte ›Schondecke‹ lag und die Kissen in der Mitte geknickt waren. Lieselotte Weinert-Klemm blieb an der Spüle stehen, ließ keinen Zweifel daran, dass sie dieses Gespräch so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. »Was willst du wissen?«
    »Alles.«
    »Ich fürchte, dass ich nicht alles weiß.«
    Wir umkreisten einander wie zwei Raubkatzen vor dem Kampf, die ahnten, dass sie gleich stark waren. »Aber seit deinem Anruf und nachdem ich dein Foto im Internet gesehen habe, kann ich mir so einiges zusammenreimen.«
    Lieselotte Weinert-Klemm fingerte sich eine Zigarette aus der Schachtel und bot mir auch eine an. Ich schüttelte den Kopf, denn ich versuchte gerade mal wieder, mir das Rauchen abzugewöhnen.
    »Und was haben Sie sich zusammengereimt?« Ich verspürte wenig Lust, diese fremde Frau zu duzen. Auch wenn es wahrscheinlich taktisch klüger gewesen wäre, um sie zum Reden zu bringen.
    Die alte Freundin meiner Mutter inhalierte den Rauch, blies ihn durch die Nase wieder aus. »Deine Mutter und ich haben einen Teil unserer Kindheit und Jugend zusammen verbracht«, fing sie mit leiser Stimme an zu erzählen. »Wir waren Nachbarinnen, unsere Familien teilten sich ein Altbremerhaus. Deine Mutter und Großeltern wohnten im Erdgeschoss, wir im ersten Stock. Obwohl ich drei Jahre älter war, hingen wir dauernd zusammen. Zuerst als Kinder, später als junge Mädchen. Selbst als ich nach Neuwarden zog, wo mein damaliger Freund und späterer Mann lebte, hielten wir Kontakt. Wir telefonierten, schrieben uns. Und im Oktober ’72 besuchte deine Mutter mich das erste Mal nach meiner Hochzeit. Es war Schützenfest, das ist bei uns immer etwas später. Tja und dann …«
    Lieselotte Weinert-Klemm hielt einen Moment inne, sah aus dem Fenster, spielte mit den Fingern an dem Anhänger ihrer Halskette. Ohne mich anzusehen, sprach sie weiter. »Hermann Dorn, der damalige Bürgermeister von Neuwarden, er wurde später Kreistagsabgeordneter, hatte ein Auge auf deine Mutter geworfen. Wieder und wieder forderte er sie zum Tanzen auf. Schenkte ihr einen Apfelkorn nach dem nächsten ein. Seine Frau war zu Hause geblieben, weil ihre kleine Tochter krank war.« Katja, schoss es mir durch den Kopf. »Hermann Dorn war ein Schürzenjäger. Immer gewesen.« Wieder schwieg Lieselotte Weinert-Klemm einen Moment lang, zog an ihrer Zigarette. »Ich weiß nicht, was in jener Nacht passiert ist. Wir hatten alle viel getrunken. Und wer nachher noch im Schützenzelt tanzte, schon nach Hause gegangen war oder in eine der umliegenden Scheunen verschwunden war und mit wem …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, drückte ihre Zigarette in einen Aschenbecher, der aussah wie selbst getöpfert, und zündete sich sofort die nächste Kippe an. »Wie ich in dieser Nacht in mein Bett gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Am nächsten Morgen wachte ich glücklicherweise neben meinem Mann auf.

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