Tod eines Mathematikers
Du reißt nur alte Wunden auf. Hermann ist tot. Und Tote soll man ruhen lassen. Seine Tochter Katja lebt noch in Neuwarden. Und sie hing sehr an ihm. Willst du ihr den Glauben an ihren Vater nehmen? Und der Professor hat dich doch sicher auch sehr lieb. Auch dem würdest du mit der Wahrheit nur wehtun.«
Ich schwieg. Natürlich wollte diese ehrenwerte Frau, dass ich mich nie wieder blicken ließ. War ich doch der lebende Beweis dafür, dass der verstorbene Bürgermeister und Kreistagsabgeordnete alles andere als ein anständiger Mensch gewesen war. Sie war bestimmt nicht die Einzige, die geahnt hatte, was damals geschehen war. Aber alle hatten geschwiegen. Waren froh gewesen, dass meine Mutter nie wieder hier aufgetaucht war. Und nun war ich hier – ein böser Geist aus der Vergangenheit, der die Wohlanständigkeit des Ortes befleckte. Ich nahm meine Jacke und verließ die Küche, ohne noch ein Wort zu sagen.
*
Dieses Mistvieh! Er hätte ihm gleich den Hals umdrehen sollen. Dabei hatte alles so schön angefangen. Auch wenn er nur ein paar Wortfetzen, das Quietschen der Schranktür oder das Klacken ihrer Absätze auf dem Parkettboden gehört hatte, hatte ihn das glücklich gemacht wie lange nichts mehr. Er war bei ihr gewesen. Morgens, wenn die quietschenden Bettfedern verrieten, dass sie aufstand. Wenn das Rauschen des Wassers an sein Ohr drang. Und er wusste, dass sie unter der Dusche stand. Mit klopfendem Herzen hatte er zugehört und sie vor sich gesehen. Nackt. Wie sie sich einseifte. Unter den Achseln. Und zwischen Beinen. Tagsüber war sie ja bei der Arbeit. Und dann hatte er plötzlich diese Kratzgeräusche gehört. Wieder und wieder. Krrrrrrrrrkrrrrrrrkrrrrrrrr. Ein unerträgliches Scharren. Die Verbindung war immer schlechter geworden und schließlich ganz abgebrochen. Und nun war die Leitung tot. Das rote Katervieh hatte die Wanze zerkratzt. Seine Verbindung zu ihr gekappt. Das sollte ihm dieses Mistvieh büßen. Den Hals umdrehen würde er ihm.
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Lief da was mit dem kleinen Dicken? Das konnte sich Knut Kossek eigentlich kaum vorstellen. Doch neulich hatten sie recht vertraut im Redaktionsflur zusammengestanden. Und die Kleine hatte ihm, Kossek, einen Blick zugeworfen, dass er jetzt, wenn Blicke töten könnten, schon unter der Erde liegen würde. Er wäre dann der zweite tote Lokalchef in Bremen binnen kurzer Zeit gewesen. Eindeutig zu viel für die Stadt an der Weser.
Ansonsten strafte sie ihn ja meistens mit Missachtung. Kühl. Abweisend. Als ob er ihr Wunder was angetan hätte. Dabei war sie es doch gewesen, die ihn an Neujahr angebaggert hatte. Und verdammt, er hatte seinen Mann gestanden, erst auf der Bühne und dann am Billardtisch zwischen ihren Beinen. Das war ja nicht wenig für einen, der die fünfzig bereits vor einiger Zeit überschritten hatte, fand er. Und jetzt zickte sie hier rum und machte einen auf Prinzessin Rührmichnichtan. Oder wollte sie ihn reizen? Er hätte jedenfalls gegen eine weitere Runde Rock 'n' Roll mit ihr nichts einzuwenden gehabt. Die Kleine war nämlich verdammt gut gewesen.
Kossek saß in seiner Wohnung inmitten nicht ausgepackter Umzugskartons. Eine neue Bleibe zu finden, war für ihn ein Klacks gewesen. Eine Anzeige mit dem Wortlaut: Leitender Redakteur d. Weserblicks, alleinsteh., su. großz. Altbauwhg. im Viertel, machte halt was her.
Kossek hockte auf dem Parkettboden, eine halb geleerte Pulle Rotwein vor sich, in den Händen seine einzig wahre Geliebte: eine rot lackierte Fender Stratocaster, Baujahr 1965. Angeschlossen an einen Mesa/Boogie. Von dem ehemals roten Lack der Stratocaster war nicht mehr viel übrig, man konnte ihn allenfalls noch erahnen. Unzählige Gigs zwischen Bremen, Oldenburg und Cloppenburg hatten ihre Spuren hinterlassen. Manches Mal hatte er auf dem verschrammten Teil gezaubert. O ja, das hatte er. Oft sogar. Er, der Ritchie Blackmore von der Unterweser. Der Vergleich stammte nicht von ihm. So vermessen wäre er nicht gewesen, niemals. Eine Regionalzeitung in Nordenham hatte ihn gezogen, vor siebenundzwanzig Jahren. Das hatte ihm geschmeichelt. Obwohl er damals ja eher Gary Moore nachgeeifert hatte.
Damals hätte er den Sprung ins Profilager schaffen können. Wenn er sich getraut hätte. Genau genommen stand er kurz davor. Damals, im Sommer 1985, als er das Angebot bekommen hatte, mit seiner damaligen Band auf Europatournee zu gehen, im Vorprogramm der Scorpions. Hie und da war man auch in Fachkreisen bereits auf ihn aufmerksam
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