Tod eines Mathematikers
Deine Mutter ist in aller Herrgottsfrühe abgereist, ohne sich von mir zu verabschieden.«
»Sie haben meine Mutter nie gefragt, warum sie einfach weggefahren ist?« Die alte Freundin meiner Mutter schüttelte den Kopf, noch immer wich sie meinem Blick aus. »Wenn ich ehrlich bin, wollte ich es damals nicht so genau wissen«, sagte sie schließlich mit bemerkenswerter Offenheit. »Ich habe den Gedanken daran immer verdrängt, glaubte, dass Hermann vielleicht ein bisschen zudringlich geworden war. Und dass deine Mutter mir daran die Schuld gab, weil ich nicht auf sie achtgegeben hatte. Aber ich habe nicht im Traum daran gedacht, dass Hermann Dorn sie in jener Nacht geschwängert haben könnte.«
Ich biss mir auf die Unterlippe. Hatte ich es doch geahnt. Mein wirklicher Vater war viel schlimmer als der Mann, den ich jahrelang dafür gehalten hatte. Ein Schwerenöter. Ein Typ, der sich an junge Mädchen ranmachte, sie mit Alkohol abfüllte und in eine Scheune lockte. Meine Kehle war so trocken, dass es mir schwerfiel zu schlucken.
»Könnte ich bitte ein Glas Wasser haben?«, fragte ich matt.
»Oh, ich habe dir ja gar nichts zu trinken angeboten«, entschuldigte sich Lieselotte Weinert-Klemm scheinheilig, drehte sich um, nahm ein Glas aus dem Schrank, der über der Spüle hing, und drehte den Wasserhahn auf. Diese Frau bot mir tatsächlich Leitungswasser an.
»Und dann, was ist dann passiert?« Wie eine Masochistin musste ich nun auch noch den Rest erfahren.
»Eigentlich nichts mehr.« Lieselotte Weinert-Klemm reichte mir das Glas. »Deine Mutter hat sich nie wieder bei mir gemeldet. Ich habe später per Zufall erfahren, dass sie geheiratet und eine Tochter bekommen hat. Aber ich hatte wirklich keine Ahnung, dass Hermann Dorn dein Vater war. Siegrid kannte den Mathematiker ja schon, als sie mich besuchen kam. Sie hatte ihn kurz vorher kennengelernt und er machte ihr den Hof. Sie fühlte sich geschmeichelt. Er war ja ein bisschen älter als sie. Wohlhabend. Und so klug, schwärmte sie. Ich dachte deshalb wirklich, der Professor wäre der Vater ihres Kindes. Bis ich dein Foto auf deiner Homepage gesehen habe. Man könnte ja denken, das sei die Homepage von Katja Dorn. Und dann diese roten Haare – Rotfuchs wurde Hermann im Dorf immer genannt.«
Lieselotte Weinert-Klemm schwieg einen Moment, blies den Rauch durch die Nase. »Tja, den Hermann wird man nicht mehr fragen können. Der ist vor fünf Jahren gestorben. Herzinfarkt. Ganz plötzlich. Zusammengebrochen im Kreistag, während er eine Rede hielt. War übrigens Innenpolitiker, der Hermann, ein harter Hund.«
Mein Magen rebellierte. »Könnte ich bitte Ihre Toilette …«
Lieselotte Weinert-Klemm nickte. »Den Flur entlang, hinten rechts.«
Ich stürmte, anders kann man das wirklich nicht beschreiben, aus der Küche. Das Badezimmer war klein und blitzsauber. Klar, hier in Neuwarden war wahrscheinlich jedes Haus, jeder Winkel, blitzsauber. Ich klappte den Klodeckel gerade noch schnell genug hoch.
Mein Magen spie das Wasser, das sich in eine klare, scharfe Brühe verwandelt hatte, aus. Schweiß trat mir auf die Stirn. Meine Augen tränten. Mit zittrigen Fingern drückte ich auf die Klospülung. Im Spiegel über dem Waschbecken sah ich mich an. Ich war völlig aufgelöst, das Haar zerzaust, die Wimperntusche verlaufen. Ich schaufelte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Natürlich hatte diese doppelbenamte Dorftrulla den wahren Grund geahnt, warum meine Mutter so plötzlich verschwunden war, und sich nicht mehr gemeldet hatte.
Mit Klopapier tupfte ich die Wimperntusche ab, schlang meine Haare zum Knoten. Für meine Mutter, die aus einem christlichen Elternhaus stammte, war eine Abtreibung nicht infrage gekommen. Sie war achtzehn Jahre alt und schwanger von einem verheirateten Mann. Vom Bürgermeister des Ortes. Niemand hätte ihr geglaubt, wenn sie ihn angezeigt hätte. Wegen Missbrauchs von Widerstandsunfähigen. Oder sogar wegen Vergewaltigung. Und in Bremen gab es diesen wohlhabenden, aufstrebenden Mathematiker, der gerade seinen Doktor gemacht hatte. Einer, der ihr Sicherheit versprach. Einer, der sie sogar heiraten wollte. Später, als ihre Ehe zur Hölle geworden war, harrte meine Mutter aus, weil wir beide versorgt sein mussten. Kein Wunder, dass sie immer so abweisend zu mir gewesen war.
»Wenn ich dir einen Rat geben darf«, sagte Lieselotte Weinert-Klemm, kaum dass ich in die Küche zurückgekehrt war. »Verschwinde einfach von hier und komm nie wieder.
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