Tod eines Mathematikers
geworden. Er hatte zwei Songs für Lindenberg geschrieben, der ihn daraufhin eingeladen hatte, mit ihm im Studio an seinem neuen Album zu arbeiten. Einmal, in der Fabrik in Hamburg, war plötzlich Charlie Watts am Bühnenrand aufgetaucht und hatte ihm nach dem Gig mit den Worten auf die Schulter geklopft: »Really great, man!« Aus der Zeit existierte ein Foto, das ihn zusammen mit Brian May von Queen zeigte. Viele Jahre hatte er es in der Brieftasche immer bei sich getragen. Doch er stand damals kurz vor dem Staatsexamen. Er wollte sein Studium unbedingt abschließen. Und er dachte an seine Gesundheit. Die aufreibenden Seiten des Rockmusikerdaseins hatte er bereits kennengelernt. Zu viele Drogen, zu viele Chicks, zu wenig Schlaf. Kossek hatte eine halbwegs bürgerliche Existenz als Journalist schließlich vorgezogen. Eigentlich hatte er ja mal Lehrer werden wollen, war aber dann auf die schiefe Bahn geraten.
Eine Zeit lang hatte er noch versucht, die Musik wenigstens nebenbei als Hobby zu betreiben. Da sich ein Großteil der journalistischen Arbeit jedoch am Abend und an Wochenenden abspielte, ebenso wie das Rockmusikerleben, war es bald schwierig bis unmöglich geworden, beides unter einen Hut zu bekommen, sodass er die Strat schließlich schweren Herzens an den Nagel gehängt hatte.
Von dort hatte er sie im Dezember des vergangenen Jahres wieder heruntergenommen. Louis, mit dem er zu Schulzeiten schon mal zusammen gespielt hatte und der damals ein ganz leidlicher Bassist gewesen war, hatte ihn angerufen und gefragt, ob er nicht bei den Steckbrieflich Gesuchten einspringen könne, weil sich Gitarrist Alessandro die Hand gebrochen hatte und für die nächsten, bereits fest gebuchten Gigs ausfalle. Da sie an Neujahr ausgerechnet in der Kneipe seines Bruders spielen sollten, hatte Kossek unmöglich absagen können, wie ihm auch Carl unmissverständlich klargemacht hatte. Louis arbeitete mittlerweile zwar als Sachbearbeiter im Bremer Liegenschaftsamt, hatte seine glorreichen Mucker-Jahre aber nie vergessen. Vor zwei Jahren hatte er schließlich einige alte Mitstreiter von damals zusammengetrommelt. Seitdem war keine Ü50-Party und kein Oldie-Abend zwischen Bremen, Osterholz-Scharmbeck und Rotenburg/Wümme vor Alessandro, Axel, Rainer, Mats, Klaus-Dieter und Louis sicher. Kossek hatte gezögert – aber nicht lange. Zu sehr hatte es ihn in den Fingern gejuckt. Zwar waren dieselben inzwischen etwas eingerostet, er hatte nur hin und wieder für den Hausgebrauch noch gespielt. Aber irgendwelche Endvierzigerinnen bis Mittfünfzigerinnen in Wallung zu bringen, dafür reichte es noch allemal. Seine Mitspieler waren musikalisch keine großen Leuchten – aber es machte tierisch Spaß, mit den Jungs zu rocken.
Kossek blickte wehmütig auf seine Gitarre. Ein nicht unerheblicher Teil der Schrammen auf der Strat waren gar keine Schrammen, sondern eingeschnitzte Kerben. An Neujahr hatte er eine weitere hinzugefügt – gleich nach seinem ersten Gig seit langer Zeit! Jetzt waren es vierundsiebzig. Verteilt allerdings über fünfunddreißig Jahre.
Kossek schlug einen Akkord an. F-Moll. F-Moll kam immer gut, wenn man gerade den Blues hatte. Dann B-Moll und C-Dur. Und einen weiteren Schluck aus der Pulle. Ein kurzes improvisiertes Intro, das ein wenig an den Mittelteil von Still got the Blues von Gary Moore erinnerte. Aber nur ein wenig. Er dachte an die Katzenstein. An ihr flammendes Haar. Eine Textzeile kam ihm in den Sinn:
Cruel chick. Why do you treat me so hard?
Dann: Readhead, you’re drivin’ me crazy.
Und: Cute chick, we can do it everywhere.
Kossek erschrak. Verdammt, was passierte hier gerade? Er schrieb einen Song! Zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren. Hatte ihn die Kleine inspiriert? Was hatte das zu bedeuten? O shit!
Die Pulle war leer. Er holte sich eine zweite. Kossek schnappte sich Zettel und Stift. Die Worte flogen ihm von selbst zu. Die Töne auch. Die Finger tanzten über die Saiten der Strat, als ob es kein Morgen gäbe. Kossek legte sein ganzes Gefühl in die rechte Hand. Sie entschied über die Qualität eines Gitarrensolos. Alles oder nichts. Hui oder pfui. Der Mesa/Boogie gab sein Bestes. Die Strat sprach zu ihm: ›Hol es aus mir raus.‹ Alles passte. Alles. Kossek war Hendrix. Blackmore. Moore. Alle zusammen. Für ein paar Minuten. Dann war es vorbei. Nach zweieinhalb Stunden war es geschafft. Der Song war fertig. Er hieß Cruel Chick. Die zweite Pulle war leer. Kossek auch. Er hatte gerade den
Weitere Kostenlose Bücher