Tod eines Mathematikers
Schröder«, sagte Harry.
»Stimmt«, gab ihm Matze recht. »Für mich klingt das alles nach großem Theater. Der war nur so ruhig, weil er genau wusste, dass seine Cousine schon tot war. Oder?«
»Möglich«, antwortete Harry. »Es kommt aber auch vor, dass Angehörige den Tod eines Vermissten einfach verdrängen, weil sie den Gedanken daran nicht aushalten. Ich kenne eine Familie, deren Tochter seit Jahren verwunden ist. Sie war damals noch ein Teenager. Doch die Familie glaubt noch heute felsenfest daran, dass sie lebt, und will einfach nicht wahrhaben, dass ihr was zugestoßen ist. Ertragen den Gedanken nicht, deswegen verdrängen sie ihn.«
Matze nickte.
»In den Akten wurde Schröder nie als Verdächtiger geführt. Er war, als seine Cousine verschwand, bei einer Presseveranstaltung, hatte also ein Alibi. Aber das muss ja nichts heißen. Vielleicht hatte er Komplizen, die Nicole in seinem Auftrag entführt haben.«
Matze nickte wieder. »Wir müssen zu dieser Raissa. Vielleicht weiß die noch mehr«, schlug er vor.
Harry schüttelte den Kopf. »Kannst du vergessen. Sie konnte schon damals nicht viel sagen. Sie ist Russland-Deutsche und nach ihrem Lehramtsstudium als Entwicklungshelferin ins Ausland gegangen. Ich versuche gerade über den Deutschen Entwicklungsdienst herauszufinden, wo sie sich zurzeit aufhält. Vielleicht kann man mit ihr telefonieren. Auch wenn ich mir davon nicht viel verspreche. Viel wichtiger ist, dass ich endlich mal meinen Kumpel Blum erreiche, um ihn zu fragen, was eigentlich aus der Todesermittlungssache Simon Schröder geworden ist und warum der sich umgebracht hat.«
*
Harry verwählte sich ein paar Mal. Vierzehn Ziffern waren einfach zu viel für sein mathematisch unterentwickeltes Hirn. Raissa Romanowits lebte seit ein paar Jahren in Conakry, der Hauptstadt von Guinea, arbeitete dort als Lehrerin an einer Schule. Der Deutsche Entwicklungsdienst hatte, nachdem Harry sich in seiner E-Mail-Anfrage als Bremer Polizist geoutet hatte, ohne Umstände ihren Wohnort, ihre E-Mail-Adresse und Telefonnummer rausgerückt.
Am anderen Ende der Leitung tutete es nur zwei Mal, bevor ihm eine weibliche Stimme »Bonjour« wünschte. Harry starrte auf den Zettel, den er sich eigens für dieses Telefonat aus seinem alten Französischbuch abgeschrieben hatte. »Harry Tenge à l’ appareil, bonjour. Pourrais-je parler à Madame Romanowits, s’il vous plaît?«, stolperte Harrys Zunge von Wort zu Wort.
»Am Apparat. Sie rufen doch aus Deutschland an?«
»Äh, ja.«
»Das hört man. An Ihrem Akzent«, lachte Raissa Romanowits ins Telefon. Sie hatte eine helle, sehr sympathische Stimme. Harry war erleichtert, nicht weiter in Französisch radebrechen zu müssen. »Frau Romanowits, mein Name ist Harry Tenge. Ich bin Polizist in Bremen. Es geht um Nicole Wollenbeck …«
»Der DED hat schon angekündigt, dass mich ein Polizist anrufen würde.«
»Sind Sie vielleicht bei Skype?«, wollte Harry wissen.
Ein paar Minuten später saß Harry Nicoles ehemaliger Freundin am Bildschirm seines Laptops gegenüber. Raissa Romanowits war ein eher burschikoser Typ, hatte raspelkurzes, dunkelblondes Haar und trug eine runde Harry-Potter-Brille. Sie musste Anfang vierzig sein. Doch der Bildschirm schummelte alle Fältchen weg, sodass die Lehrerin erstaunlich jung wirkte. An der Wand hinter ihr hingen Kinderbilder, auf denen, so viel konnte Harry erkennen, ausnahmslos die Sonne schien.
»Nun bin ich aber gespannt«, sagte die Lehrerin.
Harry erzählte ihr kurz, dass Nicole tot war. Ein trauriger Zug huschte über das Gesicht von Raissa Romanowits. Harry verschwieg ihr auch nicht, dass er ihren Schädel am Weserstrand gefunden hatte und sich deshalb für den Fall interessierte. Anders als bei Martina Fittkau, die auf ihn einen übersensiblen Eindruck gemacht hatte, traute er Raissa Romanowits zu, dass sie die Wahrheit vertrug. Raissa Romanowits nickte.
»Nicole hat Sie damals besucht?«, begann er seine inoffizielle Vernehmung.
»Ja, sie hat sich so gegen neunzehn Uhr verabschiedet. Sie wollte mit dem Bus in die Neustadt zurück, der Weg war ein bisschen weit. Tja, und dann war sie weg. Martina Lemke hat mich so gegen neun Uhr angerufen. Die beiden waren verabredet gewesen. Wollten zusammen essen, sich aussprechen …«
»Sich aussprechen?«, fragte Harry überrascht.
»Ja, genau. Nicole trug sich mit dem Gedanken, aus der WG auszuziehen.«
»Wirklich?!«
»Ja, es kriselte schon eine Weile zwischen den
Weitere Kostenlose Bücher