Tod im Albtal
und spielte Klavier. Wenn sie sich neigten und drehten, nickte sie zufrieden.
»Stopp. Die Couronne nur andeuten, bitte. Nochmals das Ganze.«
Elena schloss leise die Tür. Ich war nachdenklich geworden. »Elena, wie lange können sie das machen? Wann sind sie nicht mehr zierlich und biegsam genug?«
»Ehrlich?«
»Ja.«
»Bis Ende zwanzig. Dann ist spätestens Schluss. In Skandinavien behalten sie die Mädchen bis Anfang, Mitte dreißig. Das ist bei uns nicht drin. Sie werden dann zu matronenhaft. Und das geht nicht. Das Publikum will Träume sehen. Elfen. Und keine Wesen aus Fleisch und Blut mit Po und Busen.«
»Und was machen sie dann?«
Elena seufzte. »Gymnastikstudiotrainerinnen. Ballettlehrerinnen, wenn sie gut waren und die Knochen noch nicht kaputt sind. Ehefrauen, wenn sie schlau waren. Durchschnitt eben.«
»Mal ehrlich. Hat unsere Schneeflocke wirklich eine Chance?«
»Ganz ehrlich? Nein. Sie hat doch seit Neuestem einen Freund. Er ist nicht mal vom Theater. Ein Maler. Franzose, das heißt, er isst und kocht gerne. Den Rest kannst du dir denken. Sie nimmt jetzt die Pille. Sie wird – fraulich. Noch ein, zwei Jahre in der Gruppe. Dann ist Schluss. Aber sie hat sich entschieden. Und das ist, was zählt.«
»Weiß sie es schon?«
Elena runzelte die Stirn. »Nein. Sie hofft noch. Und ich werde es ihr nicht sagen. Träume von etwas Großem zerstört man nicht einfach so.«
Ja, dachte ich, als ich allein und auf eine schwer beschreibbare Weise deprimiert durch die grauen Flure zurückging. Sie hofft noch. Und solange sie noch alles gibt, kann man sie im Karlsruher Staatstheater noch brauchen.
Wieder vorüber an den Büros, an den Fotos. Ich schaute in einen Raum, in dem Hüte, nichts als Hüte waren. Schwarze Hüte. Ich dachte an eine Beerdigung. Ein Mann säuberte sie mit einem Lappen. Staub wirbelte um ihn.
Ja, Elena hatte recht. Man musste sich entscheiden. Ich hatte mich auch entschieden, und zwar für ein Leben im Luxus. Sorgenfrei, aber auch frei von jeder Leidenschaft, es sei denn, man bezeichnete die Suche nach einer möglichst preisgünstigen Linda-Farrow-Vintage-Sonnenbrille im Netz als erfüllend und ihren Fund als rauschhaften Zustand. Wer es bis jetzt nicht wusste: Die Sonnenbrillen der Engländerin Farrow werden auch von Lady Gaga geschätzt und sind zurzeit mehr als angesagt.
Als ich nach draußen kam und mich die frühherbstliche Wärme einer gnädigen badischen Sonne wärmte, war ich froh, wieder in meiner Welt zu sein. Zumindest hatte ich Friederike für kurze Zeit verdrängen können. Oder? Ich runzelte die Stirn.
Irgendwie hatte ich im Theater trotzdem an sie gedacht, aber in welchem Zusammenhang? Es musste gewesen sein, als ich die Hüte sah. Schwarze Hüte wie bei einer Beerdigung. Friederikes Beerdigung. Eine traurige und eine peinliche Angelegenheit. Traurig für sie und peinlich für mich. Ich hatte ganz hinten gestanden und war bald gegangen. Jeder hatte so getan, als verstehe er mich, doch es wurde bestimmt lustvoll getuschelt, kaum dass ich verschwunden war. Ein grausiger Gedanke: Vielleicht war ja auch ihr Vater, ihr Mörder, unter den zahlreichen Trauernden gewesen. In harmloser Funktion. Als Freund der Familie. Hatte er ungerührt in das Grab seiner Tochter geschaut, oder hatte er Tränen in den Augen gehabt? Niemandem wäre es aufgefallen. Ein Trauernder. Wie passend.
Ich konnte die Besuche bei Friederikes möglichen Vätern nun nicht mehr aufschieben. Damit sich die Beschwerdeanrufe von potenten Steuerkunden bei meinem Mann nicht häuften, musste ich mir einen guten Schlachtplan für mein Auftauchen zurechtlegen.
»Ja, mach nur einen Plan, sei nur ein großes Licht, und mach noch nen zweiten Plan, gehn tun sie beide nicht!«, hatte Bertolt Brecht gedichtet – bitte denken Sie nicht, dass ich diesen linken Dichter schätzen würde, aber den Spruch fand ich gelungen –, und wenn man daraus überhaupt eine Lehre zog, dann die, dass ein guter Plan ein einfacher Plan war.
Bevor ich mir darüber Gedanken machen konnte, geschah etwas Unerwartetes.
Eine weibliche Person, die ich nicht kannte und die sich auch nicht korrekt vorstellte, rief mich am frühen Nachmittag zu Hause an und bat um ein Gespräch. »Wegen der Frau in der Boutique!«
Ich hörte an der Stimme und der einfachen Ausdrucksweise sofort, dass sie keine von uns war. Eher eine Ausländerin, Russin vielleicht, aber bestimmt keine von der schicken Sorte – meist sehr attraktive Frauen –, wie
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