Tod im Jungfernturm
das Horn an ihre Lippen, und sie trank. Es fiel ihr schwer, die Stimmen der anderen zu unterscheiden. Olov gab ihr Anweisungen, rechts, links, noch mal links und dann den Hügel hinunter. Birgitta merkte, wie die Übelkeit wie eine Fliegenklatsche zuschlug, und erbrach sich. Sie hörte, wie es auf das Straßenpflaster platschte.
»Das war wohl etwas heftig.« Birgitta erkannte die Stimme des Mönches. »Hast du auf nüchternen Magen getrunken?«
Sie hatte keine Ahnung. Es fühlte sich an, als würde sie in Baumwolle waten, die Übelkeit brachte sie ins Schwitzen, die Krone drückte auf ihrem Kopf. Alles drehte sich gegen den Uhrzeigersinn. Sie war dankbar über die Dunkelheit, froh, ihre Gesichter nicht sehen zu müssen. Jemand half ihr, sich hinzusetzen. Birgitta konnte aber nicht sitzen, ohne gestützt zu werden. Ihr Oberkörper glitt zur Seite, und der Kopf donnerte auf harte Holzplanken.
»Nehmt ihr die Augenbinde einen Moment lang ab. Vielleicht ist ihr dann weniger schwindlig.« Die Stimme der Bäckersfrau. Birgitta schloß die Augen. Sie wollte in der Dunkelheit bleiben, aber sie nahmen ihr die Binde ab. Sie lag auf einer Bank, über ihrem Kopf schaukelten Rosen wie rote dahinströmende Wolken. Unten blühten Gartenhortensien, weiße Rosen und Rittersporn. Die Mauer verbarg die letzten Strahlen der Sonne, schützte aber gegen den Wind vom Meer. Sie waren im Botanischen Garten. Hier hatte sie oben im Gartenpavillon viele Nächte mit Olov verbracht. Sie waren die Strandpromenade entlangspaziert und durch das Liebestor gegangen, dann über die Straße zum Botanischen Garten, durch den Rosengarten und hinauf zum Tempelhügel. Sie wiederholte im stillen die Namen der Rosen, wie er sie ihr vorgestellt hatte: Ingrid Bergman, Astrid Lindgren, Peer Gynt. Sehr angenehm. Maria Callas. So glad to meet you!
Birgitta spürte, wie ihr die Tränen die Wangen herunterliefen, konnte aber nichts dagegen tun. Hier hatte Olov sie gejagt und in seinem Arm gefangen. Sie hatten wie Kinder gespielt, hatten ihre Kleider in einem Rosenbusch versteckt und mitten in der Nacht im Teich zwischen den Seerosen gebadet. Er hatte unter der Trauerweide mit ihr schlafen wollen. Sie hatte nein gesagt, obwohl die Lust fast übermächtig gewesen war. Damals hatten die Schatten unter der Trauerweide freundlich ausgesehen, jetzt wirkten sie bedrohlich. Sie wünschte sich zurück, aber alle Wege führten nach vorn in die Ungewißheit. Bestimmt wartete Maria Wern jetzt auf sie und fragte sich, wo sie wohl blieb.
Birgitta hörte, wie die anderen miteinander tuschelten, und vernahm Worte wie Ritter und Jungfrau. Sie legten ihr die Augenbinde wieder an, und die Frauen führten sie aus dem Botanischen Garten. Sie wußte nicht, wohin die Stimmen der Männer entschwunden waren.
Es war kühl, und sie hatte Schwierigkeiten, in den hochhackigen Schuhen das Gleichgewicht zu halten. Ihr war immer noch übel. Die anderen lachten und versuchten sich mit witzigen Geschichten über die Plagen der Ehe und die Gefangenschaft der Zweisamkeit zu übertreffen. Birgitta fühlte sich benommen, und es fiel ihr schwer mitzulachen. Sie hätte sich am liebsten zusammenrollt und auf der Bank geschlafen, auf der sie gelegen hatte. Und wünschte sich dazu, daß Olof sie in den Arm nahm und ihr sagte, daß nichts mehr gefährlich war.
»Jetzt darfst du die Augenbinde abnehmen und klettern. Wir helfen dir. Halte mich erst an der Hand und nimm dann meinen Kopf als Stütze«, sagte die Bäckersfrau. »Jetzt komm, du bist die Jungfrau im Turm, und bald kommt Valdemar, um dich zu retten.«
»Muß ich?«
»Wenn du Königin von Dänemark werden willst, schon.«
»Das muß nicht sein«, sagte Birgitta, doch die Worte, die aus ihrem Mund kamen, klangen überhaupt nicht so, wie sie es geplant hatte.
»Streck dich und faß mich an der Hand. Jetzt halt dich gut fest, und dann setzt du den Fuß auf diesen Stein hier. Nun komm schon! Es wird gehen, wenn du die Schuhe ausziehst. Wirf sie hierher. Genau. Da ist die Treppe. Jetzt kletterst du hinauf auf den Dielenboden. Und da bleibst du, während wir deinen Retter in der Not holen.«
Die Bürgersfrau verschwand und mit ihr die Stimmen. Jetzt hörte man nur noch den Wind, die Wellen und weit entfernt eine kreischende Möwe. Birgitta legte sich auf den Dielenboden. Das Licht der Straßenlaternen war ein Stück weit mit in den Turm gefolgt. Vor ihrem Gesicht lagen eine nasse aufgeschlagene Zeitung und eine weiße Taubenfeder. Sie ließ den
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