Tod im Jungfernturm
herumzuwerfen, das Auto machte einen Ruck nach links und blieb über der Kaikante hängen.
Mona nahm den Sicherheitsgurt ab, versuchte nach hinten zu kriechen, um den Schwerpunkt zu verlagern. Doch der Boden schwankte und kippte. Sie wurde nach vorn geworfen, von Dunkelheit umschlossen. Das eiskalte Wasser sickerte an den Türen herein und füllte allmählich den Boden des Autos. Sie zog den Knopf der Türverriegelung hoch. Henrik hatte gesagt, daß elektrische Schlösser einen Kurzschluß bekommen und sich verhaken konnten, wenn man unter Wasser geriet. Jetzt freute sie sich zum ersten Mal über Wilhelms Geiz und das alte gewöhnliche Schloß.
Sie faßte an den Handgriff, doch die Tür war nicht aufzukriegen, denn der Druck der Wassermassen von außen war zu groß. Sie war gezwungen abzuwarten, während das kalte Wasser eindrang und der Wagen auf den Meeresboden sank. Jetzt reichte das Wasser ihr bis zu den Knien. Die Feuchtigkeit wurde von den Kleidern aufgesogen. Langsam kroch ihr das Eiswasser um Taille und Schultern. Ein Schlangenkopf wurde sichtbar, dann noch einer. Die Schwänze der Schlangen schauten direkt vor ihrem Gesicht aus dem Wasser. Allmählich fiel es ihr schwer zu atmen.
Warum sollte sie denn kämpfen? Die Verlockung loszulassen war groß. Ein paar Minuten ohne Sauerstoff, dann wäre alles vorbei. Sie würde nicht wegen Wilhelms Tod zur Rede gestellt werden und würde nicht die Schuld tragen müssen, die sie gefangen hielt. Nie mehr bei der Arbeit tyrannisiert werden, nicht gezwungen werden, Kurse zu machen und zum Gespött der Leute zu werden. Vielleicht war das Wasser so barmherzig, daß sie erfrieren würde, ehe der Sauerstoff verbraucht war. Vielleicht würde die Schlange sie mit einer Fahrkarte zur letzten Ruhe segnen.
Nein, nein, sie wollte nicht. Noch nicht. Die Vernunft zwang sie an die Oberfläche, ins Bewußtsein. Sie suchte Gegenbilder. Es gab immer noch Augenblicke, in denen das Leben lebenswert war. Der Morgen, wenn alles ruhig und still war und die Sonne über der Weide spielte, während sie die Kühe zum Melken reinholte. Manchmal, wenn niemand ihr zuschaute, streckte sie die Arme in der sanften Meeresbrise aus und lief barfuß über das taunasse Gras. Es gab einsame Augenblicke im Sonnenuntergang am Steg, wenn das Leben in seiner Schönheit so gewaltig war. Und es gab Momente, wenn Wilhelm verreist war und sie heimlich mit Henrik im Strandhäuschen ein kaltes Bier und eine geräucherte Flunder teilte. Sie hatte sogar den neuen Bagger von Henrik ausprobieren dürfen. »Meine Güte, du bist ganz schön begabt«, hatte er gesagt. Sie ließ sich die Worte noch einmal auf der Zunge zergehen. »Du bist ganz schön begabt.«
Mit diesem tröstlichen Gedanken schlug sie die Augen auf und holte tief Luft. Irgendwas in diesem Traum war von größter Bedeutung gewesen, doch es wurde schnell vom Tageslicht aufgelöst und ging verloren. Die Decke lag auf dem Fußboden. Das Fenster stand offen, Regen wurde hereingeweht, tropfte vom Fensterbrett. Sie schaute auf die Uhr neben dem Bett: halb sieben! War es möglich, daß Anselm den Seewetterbericht verschlafen hatte? Das war wirklich ein Wunder. Mona setzte die kalten Füße auf den Boden und spürte den Schmerz im Bein. Sie zog das lange Nachthemd über die Waden und inspizierte den Biß. Heute würde es geschehen. Heute mußte sie die Stelle aufschneiden. Sie kniff ein wenig hinein. Es war immer noch unverändert blau und geschwollen.
Mona zog sich an, um in den Stall zu gehen. Am Tag zuvor hatte sie die Arbeit halb erledigt liegengelassen, um Olovs Triumph miterleben zu können. Das war es wert gewesen. Als sie ihn hatte siegen sehen, waren ihr die Tränen die Wangen heruntergelaufen, und sie war schnell hinter das Zelt gelaufen, damit niemand diese Heulsuse sah.
Schon an der Stalltür wurde sie von einem Fliegenschwarm begrüßt, die Strafe dafür, daß sie am Abend zuvor das Ausmisten unterlassen hatte. Mit schlafwandlerischer Routine wusch sie den Milcheimer aus, desinfizierte die Melkbecher mit Chloraminlösung und mischte neues Kraftfutter.
Es nieselte, als sie über den Elektrozaun kletterte und fast einen Schlag bekam. Henrik scherzte manchmal mit Anselm darüber und sagte, daß man sein Herzflimmern selbst behandeln konnte, indem man sich einfach nur hin und wieder einen Schlag holte. Dann müsse man weder Geld noch Zeit damit verschwenden, ins Krankenhaus zu fahren, um dort behandelt zu werden.
Mona atmete die Düfte ein, die in
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