Tod im Jungfernturm
was sie als Kind alles in der Schule hatte durchmachen müssen. Warum sollte sie das als Erwachsene noch einmal erleiden müssen? Mona fiel die Packpapiertüte in der Hand der Oberschwester auf, die im Takt mit den Schritten hin und herpendelte. Das sah eigentlich nicht nach Büchern aus, sondern eher wie eine Tüte, in die man die restlichen Besitztümer eines Verstorbenen tat, ehe man sie den Angehörigen übergab.
»Was für ein Glück, daß ich dich finde. Ich habe gehört, daß dein Vater hier liegt. Es tut mir wirklich leid, was mit Wilhelm passiert ist. Das ist einfach schrecklich!«
»Ja.« Mona wartete aufmerksam auf das, was jetzt kommen würde.
»Und ich weiß auch, daß du Svea von Zimmer zwölf sehr nahe gestanden hast.«
Mona versuchte ihre Angst zu verbergen, indem sie, als wäre sie in größter Terminnot, auf die Uhr schaute. Was konnte Svea gesagt haben?
»Ja, also ich habe mit der Tochter der Cousine gesprochen und ebenso mit Sveas Vormund. Keiner von ihnen will ihre Kleider haben. Du kannst sie also nehmen. Wenn du sie nicht willst, dann tu sie einfach in die Altkleidersammlung. Was meinst du? Ich weiß, daß dir das jetzt vielleicht ungelegen kommt, aber ich wollte dich auf jeden Fall fragen, ehe ich die Sachen in den Müll werfe.«
Mona nickte. Sie kriegte keine Antwort raus. Wortlos nahm sie die Tüte entgegen, drehte sich um und ging zum Treppenhaus. Sveas Kleider in den Müll. Wo sie doch wie aus dem Ei gepellt ausgesehen hatte. Mona warf einen Blick in die Tüte. Die Erinnerungen überfielen sie mit größerer Wucht, als sie hätte ahnen können, und ihr Blick trübte sich. Sie wollte allein sein und lief schnell die Treppe zum Bereitschaftsraum hoch, in dem sie wohnen durfte, solange die Polizei das Haus durchsuchte.
Das Bein tat ihr bei jedem Schritt weh, ein pochender Schmerz in der Wade. Am Morgen hatte sie den Verband abgenommen und nachgeschaut. Es sah sehr rot aus, spannte und war empfindlich. Wahrscheinlich infiziert. Eine Beule. Sie würde sie noch einmal öffnen müssen, ehe es schlimmer wurde. Sie hatte eine Flasche Sterillium und eine Rasierklinge oben im Zimmer.
Der Bereitschaftsraum lag hinter dem Dachboden. Es gefiel Mona überhaupt nicht, da wohnen zu müssen. Das Zimmer war sehr funktional. Neonröhre an der Decke, ein Bett, ein Tisch und eine Kaffeemaschine. Weiße Wände. Das Licht auf dem Dachboden, den sie durchqueren mußte, ehe sie ins Zimmer kam, funktionierte auch noch nicht wieder. Sie hatte schon am Abend vorher mit dem Hausmeister gesprochen, aber der hatte auch noch anderes zu tun.
Die Tür zum Dachboden war schwer. Mona mußte die Tüte abstellen und mit beiden Händen fest ziehen. Wenn man sie erst einmal halb auf hatte, ging es leichter. Das karge Abendlicht, das durch ein schmutziges Dachfenster fiel, beleuchtete eine seltsame Ausstellung von veralteten Rollstühlen, Beinprothesen aus Leder und einem alten Gynäkologenstuhl. Wieviel menschliches Leiden bargen diese Gegenstände!
Ihr Schritt ließ die Bodendielen knarren. Weihnachtssachen und Osterschmuck lagen dicht gedrängt neben Sauerstofflaschen, Bettpfannen und auf dem Boden abgelegten Bettgittern, die man im Dunkeln kaum erkennen konnte.
Mona tastete sich mit den Händen über das rauhe Holz. Ein leises Rascheln hinter ihr jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie wagte nicht, sich umzudrehen. Wie oft in den letzten Tag hatte sie gemeint, Wilhelms Atem zu hören. Das pfeifende Geräusch in seiner Brust, wenn er sich abends hingelegt hatte. Noch ein paar Schritte, und sie würde an der Tür zum Bereitschaftsraum sein und das Licht einschalten können. Es würde schön sein, die Tür hinter sich zuzumachen und das Dunkel des Dachbodens auszuschließen.
Plötzlich spürte Mona eine harte Hand über ihrem Mund und einen Körper, der dicht an ihren Rücken gepreßt war. Grob wurde sie zur Tür des Zimmers geschoben. Sie erkannte seinen Geruch.
»Ich hatte Angst, daß du schreien würdest«, sagte er, nachdem er die Tür hinter ihnen beiden geschlossen hatte.
»Du hast Svea getötet«, flüsterte sie verbittert. »Wie konntest du das nur tun? Wäre es nicht besser zu sagen, wie es war? Daß es ein Unfall war, in der Strandhütte? Du wolltest nicht, daß es so kommt. Ich würde das bezeugen, wenn du willst.«
»Hat sich jemand über den Todesfall gewundert? Du hast gesagt, daß sie nicht obduziert wird. Haben sie ihre Meinung geändert?«
»Nein, aber du hast dich unglücklich
Weitere Kostenlose Bücher