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Tod im Moseltal

Tod im Moseltal

Titel: Tod im Moseltal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Ness
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Asphaltdecke. Er überlegte, ob er es überhaupt wagen sollte, über diesen bunten Belag aus roten und gelben Apfel-, Birnbaum- und Lindenblättern hinwegzurollen. Nach fünf Minuten kam er zur Erkenntnis, dass die Überlegungen nicht der Sache an sich geschuldet waren, sondern vielmehr sein Betreten des Hauses verzögern sollten. Entschlossen fuhr er die letzten Meter bis vor die Haustür und betrachtete im Rückspiegel die kaum sichtbare Fahrspur auf der Laubschicht.
    Den Weg vom Auto ins Haus legte er zügig zurück, aber darauf bedacht, es vor den Augen der Nachbarn nicht hektisch wirken zu lassen. Im Flur angelangt schloss er fast geräuschlos die Eingangstür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen; als ob er sich von den wenigen Metern ausruhen müsse, bevor er die nächste Kraftanstrengung im Haus bewältigen konnte. Er betrachtete die Stapel von Zeitungen, Reklame und Briefen, die jemand vor nicht allzu langer Zeit entlang der Wand errichtet hatte. Danach war nur wenig hinzugekommen. Er klemmte die Zeitungen unter den Arm, hängte den Stoffbeutel mit seinen Utensilien, die er aus dem Gefängnis mitbekommen hatte, um sein rechtes Handgelenk und nahm die Post in die Hände. So voll beladen empfand er endlich eine Ähnlichkeit mit der Zeit vor dem Mord, nur dass er sonst mit Koffer, Akten- und Computertasche hatte jonglieren müssen, wenn er nach Dienstreisen die Treppe hinaufstieg und nach den Kindern rief. Heute brauchte er nach niemandem zu rufen. Das Haus war leer.
    Nachdem er die Post auf den Couchtisch und die Zeitungen auf den Sessel gelegt hatte, richtete er sich unschlüssig auf. Er stand mit dem Rücken zum Sofa, und es kostete ihn reichlich Überwindung, sich umzudrehen. Als er es geschafft hatte und den Platz betrachtete, wo er mit dieser angeblichen Marion Sex gehabt hatte, spürte er die entsetzliche Leere, die von seinem Inneren Besitz ergriff, umso deutlicher. Er spürte nichts: keine Trauer, keine Wut, keine Scham, keine Verzweiflung, nur Leere.
    Wie in Trance ging er ins Schlafzimmer hoch, um sich frische Sachen anzuziehen. Doch die Leere war auch hier allgegenwärtig. Das Bett lag nackt vor ihm, der Kleiderschrank stand offen, und er erkannte sofort die Lücken in den Stapeln von Maries Sachen.
    Er stand da, als ob er mit der Zeit einen Pakt schließen wollte, das Vorwärts und Weiter aus dem Jetzt zu verbannen. Dann, endlich, spürte er, wie ein dunkles Grollen von weit her immer näher und näher kam, bis schließlich ein Tsunami an Emotionen über ihn hereinbrach, mit unbändiger Gewalt die untergetauchten Gefühle an die Oberfläche hob, sie durcheinanderschleuderte, zerfetzte und neu zusammenschob.
    Wie lange er auf der blanken Matratze gelegen hatte, wusste er nicht. Er spürte unter seiner Hand eine große feuchte Lache und im Gesicht die unter getrocknetem Salzwasser gespannte Haut. Er fühlte sich unglaublich erschöpft. Er fühlte, wie die Leere, die ihn im Angesicht der nahenden Katastrophe zur leblosen Materie hatte werden lassen, mit der emotionalen Flutwelle verschwunden war. Stattdessen fühlte er sich voll von Bruchstücken vergangener Gefühle, die chaotisch in ihm herumdümpelten und nach Ordnung verlangten. Aber er fühlte.
    Mühsam rollte er sich halb vom Bett, setzte sich auf die Kante und verharrte kurz. Draußen und im Zimmer war es dunkel. Er war aus seiner Betäubung erwacht und konnte wieder denken, vielleicht auch handeln. Mit einem Ruck stand er auf, schaltete das Licht an, ging zum Schrank und zog Unterhose, T-Shirt, Pulli und Jeans raus. Aus dem Wohnzimmer eine Etage tiefer drang das aufdringliche Klingeln des Telefons zu ihm.
    Er zog sich an, ging zum Vorratsraum, nahm sich eine Dose Eintopf aus dem Regal und wärmte sich das Essen auf. Dazu holte er sich Bier aus dem Keller. Anschließend ging er ins Wohnzimmer und setzte sich neben die Papierhaufen, die er vor einer gefühlten Ewigkeit dort abgelegt hatte.
    Nach und nach arbeitete er sich durch Drohbriefe, Rechnungen und Zeitungsartikel. Das permanente Klingeln des Telefons und die auf den Anrufbeantworter gesprochenen Nachrichten diverser Journalisten ignorierte er emotionslos. Genauso wenig reagierte er auf das Klingeln an der Haustür. Einmal stutzte er, als er die Stimme seiner Mutter hörte, die ihm ihre Freude über seine Freilassung mitteilte und um Rückruf bat. Er überlegte nur kurz, dann nahm er den nächsten Brief in die Hand.
    Die Briefe waren schlimm. Bei zweien war er sich fast sicher, wer der

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